: Nach der Sause kommt die Flaute
■ "Den Store Styrkeproven", die große Kraftprobe: Ein Radklassiker mit Kultcharakter für jedermann und jede Frau ab 17. Der Haken: Die 540 Kilometer von Trondheim nach Oslo über Norwegens Hochplateau sind non
Zwischen den beiden Türmen des Doms, dem Wahrzeichen von Trondheim, blinzelt die Morgensonne hindurch. In ein Gatter gepfercht stehe ich mit 74 anderen Radlern. Die Luft ist kühl, vom Hochsommer fehlt in Norwegen noch jede Spur. Ich gehöre zur Startgruppe 12. Die Organisatoren kontrollieren die Räder: Licht und Reflektoren sind vorgeschrieben, ebenso der Helm. Ich fahre derweil im Kopf nochmals das Streckenprofil ab. Jeder Meter scheint mir vertraut. Wir werden zur Startlinie gewinkt. Puls 140 im Stehen! In meinem Kopf ein Blitzgewitter von Fragen: Habe ich die richtige Kleidung dabei? War das Training richtig? Ist das Rad in Ordnung? Das Startsignal reißt mich aus den Gedanken. Der erste Tritt in die Pedale, Tausende werden auf den nächsten 540 Kilometer folgen.
Drivalen, Kilometer 150: Nach langem Anstieg, der das Peloton auf 1.000 Meter Höhe bringt, radle ich mit etwa 300 Leuten in einer großen Gruppe. Perfekt, ohne jede Absprache, funktioniert der „belgische Kreisel“, eine besonders schnelle Führungsformation. Der Troß jagt über die Hochebene. Immer das Hinterrad des Vordermannes im Visier, bleibt kaum Gelegenheit, die urwüchsige Natur des norwegischen Hochlandes zu genießen. Das ist eine Grundsatzfrage dieses Marathons: Lasse ich mich auf die Natur ein, oder fahre ich schnellstmöglich? Kompromisse erhöhen die Gefahr unerfüllter Erwartungen.
Alle Langstreckenfahrer kennen die Reaktionen, wenn sie von Rennen wie diesem erzählen: Wie machst du das? Was, ohne zu schlafen? Oder: Du bist verrückt! Ein für allemal: bin ich nicht. Ich starte nicht, um meinen Bekannten erneut die Möglichkeit für tiefenpsychologische Fragen und Deutungen zu geben. Ich starte nur für mich. Durch die Monotonie des Tretens entsteht im Kopf eine Sphäre, die so entspannend wie produktiv ist. Geist und Körper beginnen nach einigen Stunden eine Art Paartanz mit Pogo-Einlagen. Läuft es muskulär gut, klopft der Kopf an und stellt die Sinnfrage oder gibt falsche Schmerzmeldungen. Beides Schreckgespenster allen sportlichen Erfolgs. Dann wecke ich sofort den Philosophen in mir. Nicht „Was mache ich hier“, sondern „Wofür und warum tue ich etwas“ ist der sinngebende Ansatz. Nicht nur bei diesem Rennen.
Dombas, Kilometer 230: Ich lasse die Seele baumeln und erhalte plötzlich Schmerzmeldungen. Alle geistige Entspannung ist dahin. Während der Körper seine Ruhe einfordert, beharrt der Verstand darauf, die Fahrt in unvermindertem Tempo fortzusetzen. Die Positionen sind gegensätzlich. Doch eine einfache Frage bringt die Lösung: „Ist die akute Pein nicht erträglicher als die Schmach, die Ziellinie nicht zu erreichen?“ Fahre ich jetzt weiter, so leide ich einige Stunden, gebe ich auf, so leide ich vielleicht ewig.
Brumundal, Kilometer 400: Die locker-flockigen Tritte der letzten Stunden sind kurz hinter Lillehammer verflogen. Statt lässigem Fortkommen mit rundem Tritt stampfe ich ohne Rhythmus ins Pedal. Aus der Sause wird die Flaute. Auf meinen Beinen lasten tonnenschwere Gewichte, sie zu heben erscheint unmöglich.
Der Biker neben mir dreht den Kopf und beobachtet mich. Er nickt mir verständnisvoll zu. In seinem Blick finden sich die Tiefen meines Motivationslochs, dem ich verzweifelt zu entfliehen versuche. Doch diese Augen kennen nicht nur den Schmerz, sie sahen auch die Erlösung, den Triumph und das Ziel. Das beweist sein Lächeln, es sagt: „Pain comes, pain goes!“ Darin leuchtet die Zuversicht, gepaart mit der Einsicht, daß der Weg nicht nur Ziel, vielmehr auch Überwindung ist. Sein Blick enthält Vertrauen, das gibt mir den Schwung, mich aus der Talsohle zu fahren.
Hier erhält eigenes Handeln in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten Legitimation. Insofern sind die 5.000 Mitfahrer moralische Unterstützung, geben der „großen Kraftprobe“ Sinn und nehmen ihr die Gefahr. 5.000 Egomanen kämpfen in der Gemeinschaft ihre einsame Schlacht. Jeder fährt für sich, doch keiner schafft es alleine. Nur für die Rekordjäger ist das Rennen ein Wettkampf, für den Rest eine Reise ins Ich. Und der gemeinsame Weg führt über 540 Kilometer von Trondheim nach ... Gunnar Fehlau
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