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Menschen, härter als die Zeiten

Ob „Reis“ oder „Rote Laterne“: Die Literatur Chinas kennt man hierzulande nur aus dem Umweg übers Kino  ■ Von Christiane Hammer

Die Zeiten, da in der Volksrepublik China „Konterrevolutionäre“ und „Volksschädlinge“ mit entsprechenden Plakaten vor der Brust und Schandhüten auf dem Kopf Spießruten laufen mußten, liegen einige Jahrzehnte zurück. Seither hat eine mit großem Aufwand betriebene Reformpolitik das von Maos „Großer Proletarischer Kulturrevolution“ zerrüttete Land unter dem Schlagwort „Sozialismus chinesischer Prägung“ mancherorts schon bis ins 21. Jahrhundert katapultiert. Noch immer ist es freilich nicht ratsam, auch eine „Fünfte Modernisierung“ zu fordern, die demokratische Umgestaltung in eine Civil Society. Das Schicksal des Bürgerrechtlers Wei Jingsheng und die blutige Niederschlagung der Proteste auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ am 4. Juni 1989 stehen dafür.

Wo allerdings früher einsinnig das hohe Lied der Partei gesungen wurde, haben die vergangenen zwanzig Jahre der Literatur zahlreiche Auf-, Ab- und Umbrüche beschert. Platz ist da mittlerweile auch für solipsistische Außenseiterinnen à la Can Xue (geb. 1953) oder für populäre Multimedia-Absahner vom Schlage eines Wang Shuo (geb. 1958): Die eine bringt ihre Obsessionen und Horrorvisionen von der chinesischen Menschenfressergesellschaft in der Provinz in einer Prosaanthologie mit dem Titel „Dialoge im Paradies“ zu Papier. Der andere nimmt in seinen fürs Fernsehen verfaßten Erzähltexten allen Kaisern und Kaiserchen der Staatsdoktrin ihr fadenscheinig gewordenes ideologisches Mäntelchen ab. In „Oberchaoten“ (dt. 1997) läßt er seine kleinkriminellen Helden sehr eigenwillig nach Deng Xiaopings ultimativer Maxime „Reich werden ist ruhmreich“ agieren.

Im zurückliegenden Jahrzehnt waren es jedoch vor allem die im Ausland als Avantgarde gepriesenen Filmemacher mit Chen Kaige und Zhang Yimou an der Spitze, die literarische Vorlagen aufgriffen und so für die Verbreitung eines hochgradig stilisierten China- Bildes sorgten. Ob die künstlerische Identitätssuche der einst landverschickten „verlorenen Generation“ von Ex-Rotgardisten nun subversiv oder affirmativ wirkte, ist nicht eindeutig zu beantworten. Fest steht indes, daß Autoren wie Zhong A Cheng, Mo Yan, Yu Hua oder Su Tong erst über das Medium Film ihren Weg nach Deutschland gefunden haben.

Beispiel eins: Chen Kaiges 1988 in Cannes vorgestellter Film „Kinderkönig“ basierte auf der gleichnamigen Erzählung seines Schulfreundes Zhong A Cheng (geb. 1949). Sie handelt von den Anstrengungen eines idealistischen Aushilfslehrers, seinen Schülern in einem armseligen Winkel der Südwestprovinz Yunnan Würde und Selbstbewußtsein zu vermitteln. A Cheng war zuvor bereits mit zwei anderen Novellen hervorgetreten, die ebenfalls auf eigene Erlebnisse während der Kulturrevolution zurückgehen, „Schachkönig“ (1984) und „Baumkönig“ (1985).

„Baumkönig“ erzählt eindrucksvoll von der Verzweiflung eines alten Farmarbeiters über den Aberwitz der ideologisch motivierten Zerstörung der Natur durch die Brandrodung der Regenwälder. A Chengs vielgerühmtes Debütwerk „Schachkönig“ über einen aus Peking nach Yunnan beorderten Schachfanatiker bringt die spirituelle Dimension elementarer Erfahrungen zum Ausdruck: In seinem vom Daoismus her deutbaren völligen Einswerden von Tun und Sein bis zur Selbstvergessenheit wird der Spieler zum Sinnbild für den Willen des Individuums zur Verteidigung eines eigenen Bereichs geistiger Betätigung. Zusammen mit Malerei und Kalligraphie ist das Schachspiel für den Autor, der schon seit 1987 in Los Angeles lebt, auch trotziger Beweis für sein Festhalten an Chinas Kulturtraditionen. Alle drei Texte, die zu den überzeugendsten Beispielen kurzer Prosa aus der Volksrepublik zählen, sind nach langen Querelen um die Rechte nun in einer Studienausgabe der kleinen, aber wichtigen Edition Arcus Chinatexte des Richard-Wilhelm- Übersetzungszentrums in Bochum zugänglich.

Beispiel zwei: Als eine Orgie von Farben und Tönen setzte Zhang Yimou 1987 Teile des pathetisch-irdischen, lebensprallen Revolutionsepos „Das rote Kornfeld“ (dt. 1993) von Mo Yan (Jg. 1956) in Szene und erhielt dafür im darauffolgenden Jahr den Goldenen Bären. Einer Verfilmung harrt noch „Die Knoblauchrevolte“ (dt. 1997), ein weiterer seitenstarker Roman des früheren Militärschriftstellers über brutale Funktionärswillkür und bäuerlich- tumbe Grausamkeit. Mo Yan schöpft stets aus dem Erfahrungsschatz seiner ländlichen Herkunft. Natur und Sexualität spielen eine große Rolle als Urgewalten, denen der Mensch neben den undurchschaubaren gesellschaftlichen Kräften ausgesetzt ist.

Neun kleine Erzählungen Mo Yans sind als Studienausgabe in der Anthologie „Trockener Fluß“ erschienen. Sie zeigen, daß der Autor, dessen erzählerische Kraft sich in seinen nur grob strukturierten Romanen episodisch verzettelt, eigentlich ein Meister der konzentrierten Kleinform ist. Er schreibt filmisch genau, oft aus dem Blickwinkel der Opfer und Erniedrigten, in einer kraftvoll-sinnlichen Sprache. Dabei geht er bis an die Schmerzgrenze und scheut sich nicht vor Kitsch und Pathos, etwa wenn er in der Titelgeschichte „Trockener Fluß“ vom Sterben eines vom Vater mißhandelten Kindes erzählt oder in „Die alte Flinte“ von einer versehentlichen Selbsttötung.

Daß es nicht unbedingt von Vorteil sein muß, auch „das Buch zum Film“ in die Hand zu bekommen, beweist Beispiel drei, der 1994 von Zhang Yimou verfilmte Roman „Leben!“ (dt. 1998) von Yu Hua (Jg. 1960). Was sich da innerhalb eines einzigen Tages an Katastrophen ereignet, von denen die Familie des zum Kleinbauern verarmten Ex-Grundbesitzers Xu Fugui nach und nach ausgerottet wird, böte eigentlich Stoff für ein halbes Dutzend Bücher. Xus naive Weltsicht bleibt aber wunderbarerweise über alle Zeitläufte hinweg erhalten. Die persönlichen Folgen politischer Desaster vom chinesischen Bürgerkrieg über Maos „Großen Sprung“ bis zur Kulturrevolution empfindet er nur als Schläge eines namenlosen Schicksals, und die Leser, falls sie nicht an höhere Instanzen wie Ironie und Verfremdung glauben, müssen sich mit einem versöhnlerischen Sonnenuntergangsschlußbild am Lebensabend des alleinstehenden, jedoch nicht einsamen Helden zufriedengeben: So ist „das Leben“ eben.

Für seinen Film „Die rote Laterne“ hatte Zhang Yimou 1993 bereits einen weiteren Nachwuchsautor als Stofflieferanten herangezogen: Su Tong (Jg. 1963), der sich in China mit lakonischen Erzählungen über misogyne Twens der Achtziger und Neunziger und als Verfasser historisierender Texte einen Namen gemacht hat. Den Hintergrund seines soeben verfilmten Romans „Reis“ (dt. 1998), einer grausigen Parabel über den Verfall der Reishändlerfamilie Feng, in die der verwaiste Underdog Wulong einheiratet, bilden die unruhigen zwanziger und dreißiger Jahre in der Kriegshauptstadt Nanking bis zum Massaker der Japaner. Wulongs Charakter ist geprägt von erlittenen Entbehrungen und Demütigungen. Sie sind der Motor für seinen rigorosen Aufstiegswillen, seinen Haß auf jedes menschliche Wesen über ihm und für die Grausamkeiten Frauen und Kindern gegenüber. Die Atmosphäre im Hause Feng ist von purer Niedertracht bestimmt. Su Tong schildert sie mit ebenso cooler Distanziertheit wie die vom Reis stimulierten sexuellen Vorlieben seiner Hauptfigur. Die Menschen sind noch härter als die Zeiten, doch Su Tong bietet seinen Lesern nicht den Schimmer einer politisch korrekten sozialistischen Utopie als Fluchtpunkt aus der alten Gesellschaft mit ihren schlechten Traditionen. Fundamentale Lebensäußerungen, Gewalt und Sexualität, setzt er in diesem bösen, defätistischen Buch dramaturgisch geschickt ein, ohne daß sie zum puren Selbstzweck degenerieren.

Su Tong: „Reis“. Deutsch von Peter Weber-Schäfer. Rowohlt, Reinbek 1998, 288 S., 38 DM

Yu Hua: „Leben!“. Deutsch von Ulrich Kautz. Klett Cotta, Stuttgart 1998, 220 S., 32 DM

Can Xue: „Dialoge im Paradies“. Erzählungen. Deutsch von Wolf Baus. projekt verlag, Dortmund 1996, 148 S., 20 DM

Wang Shuo: „Oberchaoten“. Roman. Deutsch von Ulrich Kautz. Diogenes Verlag, Zürich 1997, 272 S., 38 DM

A Cheng: „Baumkönig, Kinderkönig, Schachkönig“. Erzählungen. Deutsch von Marianne Liebermann u.a. projekt verlag, Dortmund 1997, 196 S., 22 DM

Mo Yan: „Trockener Fluß und andere Geschichten“. Deutsch von Frank Hegemann u.a. projekt verlag, Dortmund 1997, 199 S., 22 DM

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