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Drei Viertel wollen Atomausstieg

Sogar zwei Drittel aller Unionsanhänger sind gegen Atomkraft. Umweltministerium dementiert taz-Berichte: Man habe nichts Konkretes von Castor-Flecken gewußt  ■ Von Peter Sennekamp

Berlin (taz) – Schotten dicht bei den deutschen Atombehörden. Ein Interview mit dem zuständigen Referatsleiter für Nukleartransporte beim Bundesministerium für Umwelt (BMU), Ulrich Alter, verweigerte das Ministerium der taz gestern. Lediglich die Standardformel des Ministeriums wurde über die Agenturen verbreitet: Das BMU habe nur gewußt, daß die Möglichkeit der Grenzwertüberschreitungen wissenschaftlich erörtert worden sei.

Derweil rutscht die Akzeptanz der Atomenergie in Deutschland auf einen Tiefpunkt: Drei Viertel aller Bundesbürger wollen aus der Atomenergie aussteigen – mit Hilfe eines verbindlichen Ausstiegsgesetzes. Dies ermittelte Forsa im Auftrag der Initiative Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) in Berlin. Selbst Unionsanhänger seien zu zwei Dritteln für den Ausstieg, sagte IPPNW-Sprecher Lars Pohlmeier in Berlin. 72 Prozent der Bundesbürger halten weitere Atommülltransporte für unverantwortlich.

Merkels Referatsleiter Ulrich Alter ist Mitglied der „Ständigen Arbeitsgruppe für den sicheren Transport radioaktiver Stoffe in der Europäischen Union“, die bereits 1982 vom Europäischen Parlament eingerichtet wurde. Gegenüber der taz hatte die Internationale Atombehörde (IAEO), bestätigt, daß in der Arbeitsgruppe konkrete Grenzwertüberschreitungen beraten wurden. Im Auftrag der EU-Kommission bestellt die Arbeitsgruppe regelmäßig wissenschaftliche Studien, die sämtliche Transportrisiken und -vorkommnisse analysieren. Bereits 1985 und 1990 hatte die IAEO in ihrem Sicherheitsreport Grenzwertüberschreitungen kritisiert und dringende Abhilfe gefordert. Doch obwohl sämtliche Berichte der „Ständigen Arbeitsgruppe“ Erkenntnisse dieser IAEO-Reporte berücksichtigen, sollen die Behörden laut Merkel nichts von „konkreten Grenzwertüberschreitungen“ gewußt haben. Wir lernen: Offenbar gibt es auch unkonkrete Grenzwertüberschreitungen.

Die grüne Europaabgeordnete, Undine von Blottnitz, beantragte bei der EU-Kommission Einsicht in die Protokolle der Arbeitsgruppe. Sie sollen Aufschluß darüber geben, ob die Vertreter aller europäischen Atomsicherheitsbehörden in der „Ständigen Arbeitsgruppe“ die jährlich ansteigenden Kontaminationen nach Bekanntwerden schlicht „vernachlässigt haben“, wie ein Mitglied der Arbeitsgruppe der taz erklärte.

In Berlin legte gestern der Atomexperte Mycle Schneider vom Pariser Weltinformationsdienst für Energie (WISE) Daten über das Ausmaß der radioaktiven Kontaminationen an Atombehältern, Eisenbahnwaggons und Lastwagen vor. Alarmierend ist für Schneider, daß ein extremer Anstieg der radioaktiven Werte zu verzeichnen sei: Zwischen 1984 und 1989 lagen die Grenzwertüberschreitungen deutscher Transporte noch bei 7,4 bis 7.400 Becquerell pro Quadratzentimeter (Bq/qcm). Doch bis 1997 stiegen sie auf 670 bis 13.300 Bq/qcm.

„Das Problem wurde also immer größer und war nicht, wie die Betreiber behaupten, in den Griff zu kriegen“, so Schneider. Nach seiner Einschätzung ist der gesamte Atommüllkreislauf „vollständig kontaminiert und die tatsächliche Quelle der Radioaktivität nicht mehr nachvollziehbar.“

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