: Achtundneunzig Jahre Deutschland
■ „Ein langes Leben“: Dokumentarfilm widmet sich der Fischerhuderin Olga Bontjes van Beek / Premiere morgen
Debussy spielt der Sohn. Und die Mutter tanzt. Die Beine, sie können nicht mehr. Aber mit den Armen zeichnet die alte Dame feine Linien in die Luft. Und hin und wieder beugt sie den Oberkörper der Musik entgegen: Den Blick ins nirgendwo versenkt, berühren sich die Hände vor ihrem Gesicht und ein eigentümliches Lächeln huscht Olga Bontjes van Beek über die schmalen Lippen. Wo sie jetzt wohl ist? Olga Bontjes van Beek verrät es nicht.
Stumm bleibt sie nicht nur zu Beginn, sondern während des ganzen Films, den die beiden Regisseurinnen Konstanze Radziwill und Sara Fruchtmann über das Leben der in Fischerhude geborenen Tänzerin und Malerin gedreht haben. Erst kurz vor ihrem Tod im Februar 1995 begannen die Dreharbeiten zum Dokumentarfilm „Ein langes Leben – Olga Bontjes van Beek“. Und nach einiger Überlegung entschieden sich Radziwill und Fruchtmann, ihre betagte, vom Alter gezeichnete Hauptdarstellerin schweigen zu lassen. Wortlos also erzählt die frühere Tänzerin von sich – während ihre Kinder, Verwandte und Freunde sich wortreich mühen, die Lebensgeschichte der wenige Monate vor ihrem 99sten Geburtstag verstorbenen Frau zu erinnern.
Olga Bontjes van Beek war eine eindrucksvolle Frau. Und sie war eine sehr selbstbewußte Frau – zwei Eigenschaften, für die ihr Leben reich an Belegen ist. Im Worpsweder Barkenhof von Heinrich Vogeler ging Olga, die sich zu der Zeit – Anfang der 20er Jahre – bereits einen Namen als avantgardistische Ausdruckstänzerin gemacht hatte, ein und aus. Zum Bildhauer Bernhard Hoetger pflegte sie eine spannungsvolle Beziehung: Sie diente ihm bis zu ihrer Heirat mit dem später als Keramiker berühmt gewordenen Jan Bontjes oft als Modell. Er malte für ihre Tanzvorführungen Bühnenbilder, die, so erzählt Olgas Sohn Tim beinahe verschämt, während des Krieges zu Matratzenschonern für die darbenden Kinder verarbeitet wurden. Altbundeskanzler Helmut Schmidt schließlich schwärmt noch 60 Jahre nach ihrem ersten Zusammentreffen bei einer Prise Schnupftabak von der „mütterlichen und jungfräulichen Ausstrahlung“, die bei ihm wohl mehr als nur platonische Gefühle geweckt hat. Eine Vita voller Anekdoten?
„Ein langes Leben“ widersteht der verlockenden Versuchung, Olgas Lebensgeschichte primär anhand dieser illustren Männerbekanntschaften zu entfalten. Der Großteil des knapp 70minütigen Dokumentation widmet sich der Beziehung Olgas zu ihrer Tochter Cato, die, weil sie Mitglied der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ war, in Berlin festgenommen und dort im August 1943 hingerichtet wurde. Noch in den bewegenden Schilderungen der Geschwister Tim und Mietje wird spürbar, daß dieser Tod das Leben der ganzen Familie für immer verändert hat. Olga, die bis dahin im ständigen Konflikt zwischen ihren Rollen als Mutter und Künstlerin gelebt hatte, widmet sich dem Vermächtnis Catos und kämpft jahrelang – am Ende mit Erfolg – um die Rehabilitation ihrer Tochter.
Doch die Wunde schließt sich nie mehr. Olga Bontjes van Beek vermeidet es am Ende, mit anderen über diese Zeit zu reden. Sie hält sich vielmehr an die Bitte ihrer Tochter. In einem Abschiedsbrief an die Mutter, verlesen von Olgas Enkelin – eine der bedrückendsten Szenen des Films – bittet Cato „die liebe gute Mama, immer weiter schöne Bilder zu malen“. Am Tag der Ermordung Catos malt Olga ein verträumtes, karges Bild von den Wümmewiesen. Es bleibt ihr Lieblingsbild. Ein jahrhundertlanges Leben lang. zott
Bremer Premiere des Films: Freitag um 20.30 Uhr im Kino 46. Weitere Aufführungen: Samstag, Montag und Dienstag, jeweils 18.30 Uhr. Das Kino 46 zeigt zudem eine Auswahl von Olga Bontjes van Beeks Bildern im Foyer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen