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Zeugnisse vom Mittelmeer

Leben im Orient – autobiographische Werke von fünf arabischen AutorInnen, hier weitgehend unbekannt, wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Es sind eindrucksvolle Dokumente politischer, gesellschaftlicher und persönlicher Umbrüche in der arabischen Welt  ■ Von Verena Klemm

Das Bagdader Viertel Ras al-Karja, in dem ich das Licht der Welt erblickte, glich einem Schmelztiegel, in dem alles durcheinander wohnte. Muslime, Christen und Juden, außerdem Mandäer, Turkmenen, Assyrer und Kurden, die drei Propheten sowie Bettler und Vagabunden, von denen es in Bagdad nur so wimmelte. Wir hatten das Gefühl..., der Babelsche Turm reiche in Form von Rufen der Lebensmittelverkäufer und der fliegenden Händler vom Schlafzimmer über das ganze Haus – bis hin zum Café vorn an der Straße mit seinem Tohuwabohu, dem Geklacker des Tricktrackspiels, dem Gebrüll des Kellners ...; dieses Café, wo wir oft bis spät in die Nacht hinein amerikanische Spielfilme im Fernsehen anschauten, um unsere Träume aufzufrischen.“

Abdalkader al-Dschanabi, der hier zurückblickt auf das Bagdad der frühen Sechziger, ist einer von fünf arabischen AutorInnen, deren Autobiographien im Rahmen des Projekts unter dem Titel „Zeugnisse vom Mittelmeer“ (Mémoires de la Méditerranée) in verschiedene Sprachen Europas übertragen wurden.

Damit wird eine Reihe von AutorInnen vorgestellt, die außerhalb der arabischen Welt noch keinen Namen haben. Denn arabische Literatur wird in Europa nur selektiv und sporadisch wahrgenommen.

In ihren Büchern geben die vier arabischen Literaten sowie eine Literatin einen authentischen Einblick in die Lebenswirklichkeiten des Nahen Ostens. Sie führen zurück in die Atmosphäre jener Jahrzehnte, als sich die Region in langen Kämpfen von der unmittelbaren Herrschaft der europäischen Mächte befreite.

Junge Nationalstaaten verkörperten damals die Hoffnung auf politische Unabhängigkeit und eine eigenständige arabische Identität. Die alten und multikulturellen Städte des Orients verwandelten sich in moderne Arbeiter- und Flüchtlingsstädte. Die Frage nach den neuen Anforderungen an die politische und symbolische Ordnung polarisierte Eltern und Kinder, Muslime und Säkularisten, Militärs und Visionäre.

In diesem Spannungsfeld entfalten die Autoren völlig unterschiedliche Geschichten und Perspektiven. Die Bandbreite ihrer Berichte reicht von Kindheiten in Tripoli, Bethlehem und Amman bis in die Gefängnisse Ägyptens und das Exil in Frankreich. Die Zeitgeschichte der arabischen Welt, in Europa meist nur als Gerüst aus Daten und politischen Fakten wahrgenommen, verdichtet sich in Geschichten einzelner Menschen und Milieus.

Es wird berichtet vom Aufgehobensein des Kindes in der traditionellen Familien- und Stadtteilgemeinschaft, von der existentiellen Unruhe und den Sehnsüchten des Jugendlichen, von der Desillusionierung des Erwachsenen, der erlebt hat, daß die einst begrüßte Revolution zu einem autoritären System erstarrte. Immer wieder müssen sich die Ideale an der politischen und sozialen Wirklichkeit messen. Dabei lernt der Mensch, äußere Konflikte und sich selbst kritisch zu begreifen.

Zum Beispiel Abdalkader al-Dschanabi, geboren 1944. Der glühende Verehrer André Bretons und Verfasser surrealer Poesie verfaßte in kosmopolitischen Emigrantenkreisen in London und Paris anarchistische Gedichte und angriffslustige Polemiken gegen angepaßte Kollegen in den arabischen Ländern: Sein langsamer Ausstieg aus der Heimat beginnt, als er die Schule verläßt – „und zwar auf dem kürzesten Weg – durch das Fenster“.

Er schließt sich „einer verlorenen Generation an, die gegen die Werte und Traditionen rebellierte“. In der Region wurde sie als die „Generation der sechziger Jahre“ bekannt. Diese jungen Intellektuellen und Autoren lesen französische Existentialisten, sozialistische Klassiker und europäische Avantgardeliteraten. Sie hegen Visionen von der permanenten Revolution und der Befreiung der Kunst, die angesichts der Gewalt des Regimes bald scheitern. Um seine Phantasie zu retten, geht al-Dschanabi 1970 nach Europa.

Oder die Lebensgeschichte der ägyptischen Literatin und Literaturwissenschaftlerin Latifa al-Sayyat, geboren 1937. Auch sie engagierte sich für die Verwirklichung politischer und persönlicher Freiheit. Auch sie macht die Erfahrung der gescheiterten Revolution.

Ihr Kampf zielt auf die Emanzipation des Volkes und ihrer Geschlechtsgenossinnen in der arabischen Welt. Er führt sie nicht ins Exil, sondern in die Gefängnisse des Königs und – Jahrzehnte später – in die Mubaraks.

Al-Sayyat hält sich nicht an die lineare Ordnung und Logik konventioneller Lebensrückblicke. Ihr Text ist eine Reihung von Fragmenten, die sie im Lauf ihres Lebens geschrieben hat und schließlich zusammenfügt. Für die mittlerweile ältere Frau kristallisiert sich in dieser Komposition das Eigentliche ihres Lebens: das Erwachen des Bewußtseins im alten Haus der Großfamilie im Nildelta, das Erlebnis des Todes des bewunderten Bruders, die mutterseelenallein durchgefochtene, gesellschaftlich skandalöse Scheidung. Damit einher geht ihre politische Entwicklung. Als aktive arabische Nationalistin und Sozialistin ist sie als Studentin und später als Dozentin immer wieder direkt mit der Staatsmacht konfrontiert. Triumph und Niederlage, Hoffnung und Verzweiflung begleiten einander in allen Stationen.

Drei der fünf AutorInnen beschränken sich in ihren Autobiographien auf die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend. Sie führen dabei zurück in den sozialen Mikrokosmos dreier längst verwandelter Städte des Vorderen Orients.

Beispielsweise der Soziologe Chaled Sijade, geboren 1952: „Es gibt da, am Ostrand des Mittelmeers, eine Stadt, Tripoli im Libanon. Sie hat, mal leise, mal schrecklich laut, all die Strömungen aufgenommmen, die über die gesamte Region hinwegspülten. Wir waren noch klein damals, als die Bewohner es offenbar eilig hatten, die alten Viertel Richtung Westen zu verlassen, wohin sich, mitten in die Orangen- und Zitronenhaine, die Stadt ausdehnte.“ Bei Chaled Sijade ist die Geschichte des heranwachsenden Kindes eng mit der Geschichte der baulichen Entwicklung seiner Stadt verschmolzen.

Ein anderes autobiographisches Zeugnis zeigt, wie Zeitgeschichte den sich formierenden kindlichen Kosmos langsam erfaßt und durchdringt. Abdalrachman Munif, geboren 1933, erzählt vom Erwachsenwerden in Amman, dessen heimeliges, zugleich islamisch-traditionelles Milieu durch ein tödliches politisches Attentat für ihn einen ersten Riß bekommt. Jahre später, mit der Ankunft der zahllosen Palästinaflüchtlinge von 1948, ist das bisher ruhige soziale Leben der Stadt vorbei. Auf den Straßen Ammans wird gewaltsam gegen die Politik der jordanischen und der britischen Regierung demonstriert. Über all diese Erfahrungen hinweg ist dem Knaben, wie vielen anderen jungen Arabern, ein antiimperialistisches und panarabisches politisches Bewußtsein erwachsen.

Auch Dschabra Ibrahim Dschabra, geboren 1919, emigriert als junger Mann aus der Stadt seiner Kindheit. Nach vielen Lebensstationen in Ländern der arabischen und westlichen Welt ist der hochgelehrte und vielseitige Künstler 1994 in Bagdad gestorben. In seiner Autobiographie blickt er zurück ins Palästina der zwanziger und dreißiger Jahre. Dort, in Bethlehem, hat er als Sohn einer sehr armen syrisch-orthodoxen Familie seine Kindheit verbracht.

Aus diesem „ersten Brunnen“ seines Lebens gestalten sich die Geschichten als „eine Mischung aus Erinnerungen und Träumen, ein Verschmelzen von Wahrheit und Dichtung, ein Zusammenspiel von Rationalem und Irrationalem“. Wie die Brunnen in den Höfen und Feldern des vormodernen Palästina sammelt der metaphorische Brunnen der Kindheit eine elementare und lebensnotwendige Essenz, die in Zeiten der Trockenheit und des Durstes neues Leben und Erfrischung verleiht.

Die Lektüre der Autobiographien – nicht durchweg spannend – erweitert den eingeschränkten europäischen Horizont. Sie führt Lebenswirklichkeiten vor Augen, die sich in der Dynamik einer schnellen Modernisierung und einer oft tragischen Zeitgeschichte verändern. Und sie zeigt, trotz des vielzitierten Diktums von der gegenseitigen Fremdheit, daß diese Autoren vielen von uns näherstehen als manch ein Ideologe der westlichen Hemisphäre.

Zeugnisse vom Mittelmeer (Mémoires de la Méditerranée) wird getragen von der Europäischen Kulturstiftung in Amsterdam. Ziel ist es, verschiedene Kulturkreise einander näherzubringen. Darüber hinaus zielt das Projekt auf einen dringend nötigen Erfahrungsaustausch der Übersetzer. Die Ausweitung des Programms rund ums Mittelmeer ist in Planung. In deutscher Sprache erscheinen die Arbeiten des Übersetzungsprojektes im Lenos-Verlag in Basel.

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