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„Mein Sohn muß ins Gefängnis“

Die Eltern des bosnischen „Crashkids“ Jasmin O. sind völlig hilflos und glauben, daß nur der Knast ihren Sohn vom Autoklauen und Ladendiebstahl abbringen kann. Die Psychologin vom Kindernotdienst beschreibt ihn als „absolut wurzellos, aber sehr intelligent und sensibel“  ■ Von Julia Naumann

Sie starren auf den Fernseher und rauchen eine Zigarette nach der anderen. Alija und Hasbija O. wissen nicht, wie es weitergehen soll. Mehr als 100 Straftaten in den vergangenen drei Jahren brachten ihrem Sohn Jasmin den Ruf eines „Crashkids“ ein. Er klaute Autos, brach in Geschäfte ein, beging zahlreiche Ladendiebstähle. Eine Boulevardzeitung nannte ihn jüngst die „wandelnde Zeitbombe“. In den vergangenen Monaten sorgte das bosnische „Klaukind“ immer wieder für Schlagzeilen: Ist er 14 Jahre alt und damit strafmündig oder nicht?

Für die Eltern stellt sich diese Frage nicht. „Jasmin muß ins Gefängnis.“ Das ist der Satz, den Alija O., der Vater, ständig wiederholt. Der Knast scheint für den 37jährigen die einzige Lösung, damit sein Sohn keine Spritzfahrten mehr unternimmt, keine Kofferradios mehr klaut, kein Haschisch mehr raucht. Alles andere hat für den Vater keinen Sinn – jedenfalls solange die Familie noch in Berlin lebt.

Alija O. hat einfache Vorstellungen: Er will, daß sein Sohn von der Polizei aufgegriffen und ins Gefängnis gebracht wird. Wenn die Familie zurück nach Bosnien geht, soll Jasmin von den Polizisten ins Flugzeug verfrachtet werden. Und dann? Die Eltern zucken mit den Schultern. „Wenn er in Bosnien wieder klaut, dann schlage ich ihn“, sagt der Vater. „Danach wird er es nie wieder tun.“ Er kennt anscheinend nur die Rohrstock- Pädagogik. Eine andere Lösung kann sich der Vater nicht vorstellen. Von betreuten Wohngemeinschaften, geschlossenen Heimen oder sozialpädagogischer Betreuung hat er noch nie etwas gehört.

Tagtäglich sitzen die beiden in ihrem Wohn-Schlafzimmer in einem Flüchtlingsheim in Pankow, in dem sie seit Anfang März wohnen. Als Flüchtlinge dürfen sie nicht arbeiten, sind zur Untätigkeit verdammt. Hilflos. Die Stimme des Vaters, der sich in kurzen, einfachen Sätzen auf deutsch verständigen kann, wird nicht laut oder aggressiv, wenn er seinem Sohn die Polizei auf den Hals wünscht. Seine Stimme ist eher leise, fast flüsternd. Alija O. versteht nicht, warum sein Sohn nicht einfach eingesperrt bleiben konnte, als er vor zehn Tagen nach fast drei Monaten aus der Jugendstrafanstalt Kieferngrund entlassen wurde.

Der Grund: Die Justizbehörde konnte nun doch nicht ausschließen, daß der Jugendliche jünger als 14 Jahre ist. Mehrere medizinische Gutachten waren in Auftrag gegeben worden, um das Alter des Flüchtlingskindes herauszufinden. Ein Gutachter röntge Handwurzel und Zähne des Jungen und schätzte, daß Jasmin zwischen 14 und 15 Jahre alt ist. Er räumte dann aber ein, daß Altersabweichungen nicht auszuschließen seien. Doch die Familienzusammenführung war kurz. Nach seiner Entlassung hielt es Jasmin nur zwei Tage bei seinen Eltern aus.

„Er ist in seinem jungen Alter schon ein sehr kaputter Typ“, sagt eine Mitarbeiterin des Wohnheimes. Sie hat mehrere Male mit Jasmin gesprochen. Er sei ein „total entwurzeltes Kind“. Ihr gegenüber hätte er den Wunsch geäußert, „zur Ruhe“ kommen zu wollen – aber anscheinend nicht bei seinen Eltern. Am vergangenen Wochenende war Jasmin aus dem Wohnheim verschwunden. Wohin, das weiß niemand genau: wahrscheinlich zum Bahnhof Zoo oder in die Neuköllner Sonnenallee, wo sein Onkel wohnt. Orte, an denen er sich in den vergangenen Jahren zu Hause fühlte. Am Dienstag tauchte er dann im Kindernotdienst auf und wollte dort einige Tage bleiben. Doch wenige Stunden später wurde Jasmin wieder beim Klauen erwischt. Mit einem Radio auf der Schulter war er in eine Drogerie in der Reichenberger Straße hereinspaziert und wollte die passenden Batterien mitgehen lassen. Am gleichen Abend verließ er den Kindernotdienst. Am nächsten Tag wurde er in Friedrichshain beim Klauen von Jeans erwischt. Seitdem ist er untergetaucht.

Auch die Psychologin des Kindernotdienstes, Gisela Chenitir, charakterisiert den Jungen als „absolut wurzellos“. Sie hält Jasmin für „sehr intelligent und sehr sensibel“. Seine Deutschkenntnisse seien „ausgezeichnet“. Er könne jedoch weder schreiben noch lesen. Der Junge habe den Wunsch geäußert, „Künstler“ zu werden. Über seine Diebstähle hätten sie gar nicht gesprochen, sagt die Psychologin, die häufig delinquente Kinder behandelt. Vielmehr hätten sie darüber geredet, was Jasmin sich jetzt für eine Zukunft vorstelle. „Es ging natürlich darum, ob er zusammen mit seinen Eltern nach Bosnien zurückkehrt oder ob er hierbleibt“, sagt Chenitir. Diese Ungewißheit sei für Jasmin ein großer Konflikt: Er sei seinen Eltern gegenüber sehr loyal – trotz ihrer Unfähigkeit und Schläge. Das sei bei auffälligen Kindern häufig so. Die Psychologin räumt Jasmin durchaus Chancen für ein normales Leben ein, wenn er in Berlin bleibt und hier einen Vormund und einen Heimplatz bekommt. „Das ist natürlich auch eine Kostenfrage“, sagt sie. Eine Lösung haben die beiden nicht gefunden. „Wir werden weiter darüber reden“, sagt sie. Chenitir vermutet, daß Jasmin wegen seines Konflikts mit den Eltern immer wieder geklaut und aus dem Notdienst abgehauen sei.

Jasmins Familie dagegen will auf jeden Fall mit ihm nach Bijeljina zurück, ihre Heimatstadt in der jetzigen Republik Srpska. Dort arbeitete der Vater vor dem Krieg in einem Krematorium. Die 16jährige Tochter Jasna, seit anderthalb Jahren verheiratet und Mutter eines dreimonatigen Babys, ist bereits dorthin zurückgekehrt. Sie will aber nach Tuzla in die Föderation, weil das Haus der Familie total zerstört sei, erzählt Jasmins Mutter unter Tränen.

Bijeljina war eine der ersten Städte, die im April 1992 von serbischen Einheiten angegriffen wurden – rund 8.000 Muslime, darunter viele Roma, flüchteten nach Berlin. Die Familie O., auch Roma, schlug sich zuerst nach Belgrad zu Verwandten durch: „Bei einer Ausweiskontrolle bin ich von einem Polizisten mit einer Pistole so stark am Kopf verletzt worden, daß ich vier Stunden operiert worden mußte“, sagt Alija O. und zeigt die Narbe an seinem Kopf. Danach beschloß er, mit Jasmin zu fliehen. 1995 kamen sie nach Berlin, wo bereits Frau und Tochter ein halbes Jahr früher ankamen.

In Berlin ging die Odyssee weiter. Die Familie hat in Heimen in Spandau, Köpenick, Kreuzberg und Tiergarten gelebt. Sie mußten immer wieder umziehen, weil Jasmin „Ärger“ gemacht habe. Doch „Ärger“ hat auch der Vater verursacht – zumindest einmal. Als Jasmin wieder einmal von einer ausgedehnten Spritztour mit einem geklauten Auto ins Heim zurückkam, kettete Alija O. seinen Sohn kurzerhand an eine Heizung. So wollte er Jasmin daran hindern, wieder abzuhauen. Ein Mitarbeiter des Wohnheims informierte die Polizei, die Jasmin prompt befreite. Nicht den Sohn, sondern den Vater nahm die Polizei mit. Wegen Mißhandlung habe er fünf Monate auf Bewährung bekommen, erzählt Alija O. und guckt ungläubig. Das Handeln der Polizei kann er überhaupt nicht verstehen.

Genauso unverständlich scheint es den Eltern zu sein, warum Jasmin „böse“ geworden ist, wie sie es ausdrücken. Sie können es nicht erklären, finden keine Worte – weder auf deutsch, noch in der Heimatsprache. In Bosnien sei er immer ganz „normal“ gewesen, sagt der Vater. Die Psychologin im Kinderdienst weiß jedoch, daß Jasmin schon in Bosnien ab und zu von zu Hause ausgerissen ist. Nach der Ankunft in Berlin hätte er angefangen zu klauen und Autos aufzuknacken, klagt der Vater.

Er habe keinen Kontakt zu anderen bosnischen Kindern gehabt. Auch habe er Haschisch geraucht. „Er sagte immer: Nein Mama, nein, ich rauche nur Zigaretten“, erzählt die Mutter. Aber sie habe gesehen, daß in der Zigarettenschachtel Haschischklumpen versteckt gewesen seien. Jasmin sei häufig am Bahnhof Zoo und in Neukölln bei einer deutschen Freundin gewesen sein. „Er machte eben immer mehr klaudi- klaudi“, das ist die Erklärung des Vaters.

Genauso wie die Eltern offensichtlich nicht in der Lage waren, sich um den schwierigen Sohn zu kümmern, trugen sie auch kaum dazu bei, die Justizbehörden über das tatsächliche Alter von Jasmin aufzuklären. Das hätte ihn möglicherweise vor dem Knast bewahrt. Die Eltern hätten sich die Geburtsurkunde aus Belgrad, wo Jasmin geboren wurde, schicken lassen können. Doch, so die Eltern, weder Polizei noch Justiz hätten jemals nach dem Papier gefragt. Vielleicht waren sie darüber auch insgeheim froh, denn dadurch wurde ihr Sohn immerhin für elf Wochen aus dem Verkehr gezogen. „Ich liebe meinen Sohn“, sagt Alija O. „Aber er muß ins Gefängnis.“

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