„Wenn du den Yeti siehst, behalt es für dich!"

■ Adriano Sofris labyrinthischer Bericht über die Irrungen und Wirrungen seines Lebens

Was bleibt der Rezensentin zu tun, wenn dem zu besprechenden Buch bereits eine Interpretation beigegeben ist, die in vielem vorwegnimmt, was sie gern geschrieben hätte? Dieses Problem stellt sich bei der deutschen Ausgabe des 1995 in Italien erschienenen Buches von Adriano Sofri „Der Knoten und der Nagel. Ein Buch zur linken Hand“ in der Übersetzung von Walter Kögeler. Anders als im italienischen Original enthält der Band einen „biographischen Essay“ von Carlo Ginzburg, der über das rein Biographische hinausgeht. Ginzburg ist seit Kindertagen mit Adriano Sofri befreundet, er hat nicht nur den schier unendlichen Prozeß gegen seinen Freund und dessen Mitangeklagte aufmerksam verfolgt und in einem luziden Essay analysiert (dt. „Der Richter und der Historiker. Überlegungen zum Fall Sofri“, Berlin 1991).

Carlo Ginzburg ist darüber hinaus der immer mitzudenkende geistige Dialogpartner in diesem Buch. Sofri übernimmt Ginzburgs Methode einer intuitiven, scheinbar tastend umherirrenden Reflexion, die zeitlich und räumlich weit auseinanderliegende Tatsachen, Bilder und Symbole verknüpft und zu überraschenden Einsichten nutzt. Ginzburg gilt längst als einer der Gründerväter einer neuen, narrativen Form der Geschichtsschreibung, die die Kultur in den Mittelpunkt stellt. Der politische Essayist Sofri greift nun die Methode Ginzburgs auf, um sie auf die Gegenwart und seine eigene Biographie anzuwenden.

Der Titel des Buches verdankt sich dem „glücklichen Umstand“ (Sofri), daß er sich im italienischen Original hübsch reimt: „Il nodo e il chiodo“. Auch wenn das Begriffspaar zunächst nur spielerisch gewählt worden sein mag, bildet es doch den Leitfaden der locker aneinandergereihten Texte, die auf den ersten Blick wie zufällig zusammengewürfelte Lesefrüchte, Exzerpte und Aphorismen erscheinen. Carlo Ginzburgs erklärt den inneren Zusammenhang dieser Texte: „Der Faden, der die unzähligen Fragmente und Erzählstränge zusammenhält, ist die Reflexion über die Erfahrung einer Generation oder eines Teils von ihr, jener Generation, die gegen Ende der sechziger Jahre in verschiedenen Teilen der Welt versuchte, das Leben mittels der Politik zu ändern und umgekehrt. Das Buch ist auch ein Nachdenken über eine Niederlage. Wer es gelesen hat, stellt sich am Ende die Frage, ob scheinbar eindeutige Bezeichnungen wie ,Erfolg‘ und ,Niederlage‘ nicht auch eine andere als die gängige Bedeutung haben könnten.“ (S. 289) Die „Niederlage“, um die Sofris Reflexionen kreisen, hat politische, gesellschaftliche und biographische Dimensionen. Die ganz persönliche „Niederlage“ und zugleich der Anlaß für das Buch war der Prozeß und die Verurteilung Sofris, Bompressis und Pietrostefanis im Januar 1997 als Anstifter und Mittäter am Mord des Polizeikommissars Luigi Calabresi im Mai 1972. Ginzburg schrieb seinen Essay zu Sofris Buch zu einem Zeitpunkt, als noch zu hoffen war, daß einem Revisionsantrag stattgegeben und damit dieser Prozeß, der sich „wie eine Krankheit“ über neun Jahre und sieben verschiedene Urteile hingestreckt hatte, neu aufgerollt werden könnte. Inzwischen ist der Revisionsantrag tatsächlich abgelehnt, die Häftlinge weigern sich nach wie vor, Gnadengesuche zu stellen, der angekündigte Hungerstreik mußte wegen der schweren Erkrankung eines der drei Angeklagten abgebrochen werden, die Solidarität von außen erlahmt. Damit scheint es fast unwiderruflich, daß die drei Verurteilten die nächsten zwei Jahrzehnte ihres Lebens hinter Gittern verbringen müssen. Paradoxe Situation: Drei ehemaligen Führer von Lotta Continua, die terroristische Gewalt immer ausdrücklich abgelehnt haben, sind ins Gefängnis gewandert, während die Verurteilten der Roten Brigaden teilweise die Gefängnisse schon wieder verlassen.

Was hat nun diese juristische Niederlage und persönliche Katastrophe mit Knoten und Nägeln zu tun? Diese beiden profanen Gegenstände symbolisieren für Sofri sein Nachdenken über „dualistische Weltdeutungen“ auch „nach der Abkehr vom politischen Aktivismus und dem Schock der Frauenbewegung“ (S. 48). Sofri hat nicht nur vom politischen Aktivismus Abschied genommen, er hat auch der „Linken“, jedenfalls nach den gängigen Schemata der aktuellen italienischen Politik, Adieu gesagt. Seine Kolumnen erscheinen in Blättern des Imperiums Berlusconi. Das heißt aber nicht, daß Sofri ein „Rechter“ geworden wäre. Für ihn besitzen diese Kategorien nicht mehr ihre ausschließende Gültigkeit, und um dies klarzumachen, schreibt er in den Blättern der Rechten, ohne sich mit ihnen zu identifizieren.

Eine Erklärung für dieses seltsame Verhalten gibt sein Buch. Wir erhalten einen Einblick in den langen und mühsamen Weg zu der Erkenntnis, daß trotz der hohen Mauern die Zweiteilung, an die sich manche klammerten „wie Schiffbrüchige“ (S. 12), links und rechts einander genauso bedingen wie männlich und weiblich, wie Tag und Nacht. Sofri greift zurück in die Vergangenheit, in Geschichte und Mythos, und will doch in die Zukunft weisen. Er greift ganz persönliche Erinnerungen auf, zum Beispiel daß er als kleiner Junge immer mit offenen Schnürsenkeln herumgelaufen ist, weil ihm das schon damals die Geduld für das umständliche Binden der Knoten fehlte. Das Vorwärtsdrängen, der „Wunsch nach – oder vielmehr die Leidenschaft für – Veränderung“ sieht Sofri als das wichtigste Merkmal seiner eigenen politischen Karriere und der gesamten revolutionären Linken an und entdeckt mit Erstaunen, daß es auch eine Leidenschaft geben könnte für das, was bleibt oder das, was schon immer war, nämlich die Natur.

Für die Linke war ja bekanntermaßen „der Verweis auf die ,menschliche Natur‘ schlechthin das Argument der Rechten“, und ich kenne kaum jemand aus der 68er Generation, der mit ähnlich entwaffnender Offenheit einen Denkfehler eingestanden hätte. Erst mit dieser Offenheit aber kann der Weg frei werden, um, wie es Ginzburg formuliert hat, den Begriffen „Erfolg“ und „Niederlage“ eine andere als die gängige Bedeutung zu geben.

Daß mit dem Eingeständnis einer Niederlage und eines Irrweges keineswegs eine reuige Rückkehr zum sogenannten Altbewährten, also im politischen Sinne zum Konservativismus gemeint sein soll, entwickelt Sofri anhand einer ziemlich kühnen Analogie zum Alpinismus. In dieser Zunft hätte man noch vor wenigen Jahren eine Alpinistik als völlig paradox betrachtet, „die keine Gipfel braucht und der Auffassung ist, wenn eine Wand unüberwindlich erscheint, sei die Lösung ,letztendlich' die, auf den Aufstieg zu verzichten.“ (S.112) Zu diesem „Weg des Verzichts“ hat sich auch Reinhold Messner, einst der Gipfelstürmer par excellence, entschlossen. Inzwischen stimmt er auch dem zu, was Sofri als seine „Moral“ bezeichnet, wenn er sie in einem Motto zusammenfassen wollte: „Wenn du den Yeti siehst, so behalt es für dich.“ (S. 114)

Sofris Yeti war sicherlich eine Frau, denn die staunende Entdeckung der vielfältigen Bedeutungen der „typisch weiblichen“ Geduldsübungen des Knotens und Knüpfens, Webens und Flechtens macht einen großen Teil des Buches aus. Besonders diese Passagen haben einen Zug nostalgischer Wehmut. Daß er um die Ironie dieser Sehnsucht nach der verlorenen Weiblichkeit durchaus weiß, deutet Sofri nur an: „Die Zeiten ändern sich natürlich. 1989 ergab eine Umfrage der Zeitschrift Prospettive nel mondo, daß nur sieben von hundert Mädchen in Italien stricken können.“ (S. 90)

Zu einem Vergnügen besonderer Art lädt der umfangreiche Anmerkungsteil an, eine Art Buch zum Buch, das manche Texte in andere Richtungen weiterspinnt, vor allem aber zahllose interessante Literaturhinweise enthält. Friederike Hausmann

Adriano Sofri: „Der Knoten und der Nagel. Ein Buch zur linken Hand“. Deutsch von Walter Kögeler. Eichborn Verlag, Frankfurt/ Main 1998, 304 Seiten, 49,50 DM