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Herz, Wille, Arbeit und Kunst

In der Schlußminute sorgt Dan Petrescu für den verdienten 2:1-Erfolg Rumäniens gegen England, dessen Fans auch nach der Enttäuschung relativ friedlich bleiben  ■ Aus Toulouse Ralf Mittmann

Dan Petrescu sollte eine Frage beantworten, aber sie war ihm selbst ein Rätsel. „Wieso ich da in letzter Minute noch in den englischen Strafraum gerannt bin, kann ich auch nicht sagen“, lachte der Mann. Doch als ihm der Ball nach dem feinen Zuspiel des Kollegen Dorinel Munteanu vor den Füssen lag, da wußte er sofort, was zu tun war. „Im Fußball“, erklärte Petrescu, „da kann ein einziger Moment alles ändern.“ Und so war es auch gewesen: der 30jährige, pikanterweise sein üppig Brot verdienend bei Chelsea London, schüttelte Widersacher Graeme Le Saux ab und plazierte die Lederkugel zwischen den Beinen von Torwart Seaman hindurch zum 2:1-Siegtreffer für Rumänien im englischen Kasten.

Ein einziger Moment – und was für ein Moment. Reihum benutzten Rumäniens Helden den Superlativ. Für Petrescu war es „der bedeutendste Augenblick meiner Karriere“, in der er es immerhin schon zu 70 Länderspielen gebracht hat. Für Viorel Moldovan, der das erste Tor der Rumänen erzielt hatte, übrigens auch England- Legionär in Diensten von Coventry City, war es „das wichtigste Tor meiner Laufbahn und der außergewöhnlichste Sieg“. Adrian Ilie, der begnadete Techniker, der einige Male alleine die gesamte englische Defensivabteilung an der Nase herumgeführt hatte und nach 27 Minuten mit einem Heber an der Querlatte gescheitert war, erklärte den 22. Juni 1998 zu einem „historischen Tag für unseren Fußball“.

Und auch Trainer Anghel Iordanescu nahm sich Zeit, die eigene Leistung ins rechte Licht zu rücken. Ein „Sieg des Herzens, des Willens, der Arbeit und der Kunst“ sei es gewesen, den seine Spieler errungen hätten. Und da keine Mannschaft ohne einen guten Trainer erfolgreich sein kann, hatte Iordanescu ihr in aller Bescheidenheit „ein taktisch intelligentes Konzept“ mit auf den Weg gegeben.

Wer wollte es den Helden des Abends verdenken, daß sie sich den süßen Glücksgefühlen hingaben. Aber ein Moment für die Ewigkeit? Wohl kaum. Bei nüchterner Nachbetrachtung werden auch die euphorischen Ballvirtuosen aus dem Karpatenland zur Erkenntnis kommen, daß es so schwer nicht gewesen war, dieses englische Team zu überrumpeln. Die simple Variante, durch entsprechend erhöhten Laufaufwand im Mittelfeld die dort postierte Fünferreihe variabel zur Verstärkung der Dreier-Abwehrkette und des Zweier-Angriffs einzusetzen, genügte schon, um beim Gegner Sand in alle Getriebeteile zu streuen.

Erst in den letzten 30 Minuten kamen die Engländer überhaupt ins Spiel, und das hatte mehrere Gründe. Die Rumänen wurden allmählich müde, ihre Konzentration ließ nach, außerdem gaben sie sich zu sehr der Schönspielerei hin. Ob aus Arroganz des technisch überlegenen oder aus reiner Spielfreude, ließ sich später nicht mehr klären. Der Ausgleich in der 83. Minute durch den 18jährigen Michael Owen, der zehn Minuten zuvor für Sheringham eingewechselt worden war, schien die Strafe zu sein für all die Nachlässigkeiten. Bis dann Petrescus magischer Moment kam – und alles änderte (weil eine Minute später Owens 20-Meter-Schuß an den linken Pfosten klatschte). Während die Engländer nun gegen Kolumbien um den Einzug ins Achtelfinale kämpfen müssen, sind die Rumänen für die zweite Runde qualifiziert. Im Vergleich zur WM 1994, als im Viertelfinale gegen Schweden Endstation war, sei das heutige Team stärker, glaubt Dorinel Munteanu. Der Grund: „Wir sind reifer, und wir stehen vor allem auch in der Defensive kompakter.“ Inmitten seiner jubilierenden Kameraden mußte Munteanu dann deutschen Journalisten Auskunft darüber geben, ob er seinen noch ein Jahr lang gültigen Vertrag beim 1. FC Köln erfüllen wolle. Schlechte Kunde für den Absteiger, er will nicht. Die Bundesliga wäre ihm am liebsten, „wenn ein Angebot kommt, ansonsten gehe ich auch ins Ausland, und jetzt reicht es“.

Gereicht hatte es auch den Bewohnern der Stadt, die froh waren, als die englischen Fans gestern wieder abgereist waren. „Toulouse atmet auf“, verkündete die regionale Tageszeitung La Dépêche du Midi. Die Engländer – ob es 15.000 oder noch mehr waren, die die Hauptstadt des Midi-Pyrénées bevölkerten, entzieht sich detaillierter Kenntnis – haben Toulouse leer getrunken, sie haben gesungen, gegrölt und ihre nackten tätowierten Körper zur Schau gestellt, sie haben mit Fußbällen auf Autos geschossen und zuhauf Flaschen und Gläser zu Bruch gehen lassen. Aber sie haben sich nicht geprügelt, nicht mit Ordnungshütern und auch nicht mit übermütigen jungen Toulousains, die auf Mopeds angefahren kamen und provozierend Baseballschläger kreisen ließen. Französische Sicherheitskräfte zogen die Jungen aus dem Verkehr, unter dem Applaus der Engländer. An einzelnen Stellen gab es kleinere Scharmützel zwischen betrunkenen Fans und Polizisten, meist verbaler Art.

Vier Männer wurden festgenommen, drei von ihnen saßen wenig später in einem Flugzeug, das sie nach London brachte. Der vierte wird vermutlich verurteilt, weil er an den Vorfällen in Marseille beteiligt war. Ansonsten gab es in Toulouse hauptsächlich Arbeit für die Stadtreinigung, die noch in der Nacht ans Werk ging.

England: Seaman – Neville, Adams, Campbell – Anderton, Batty, Ince (33. Beckham), Scholes, Le Saux – Sheringham (73. Owen), Shearer

Zuschauer: 35.500

Tore: 1:0 Moldovan (47.), 1:1 Owen (83.), 2:1 Petrescu (90.)

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