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Eine Arbeiterstadt sucht die Zukunft

Der Streik von 9.200 GM-Arbeitern in Flint, Michigan, legt den größten Automobilhersteller der Welt lahm  ■ Aus Washington Peter Tautfest

In Flint sagt man, die Stadt gehöre General Motors, und die Autoarbeitergewerkschaft UAW sei der Sheriff. Das Städtchen im Bundesstaat Michigan unweit von Detroit hat eine Chevrolet-Buick- Straße und eine, die nach der UAW benannt ist. Jetzt sind Sheriff und Kapitalist wieder aneinandergeraten: Was am 5. Juni in einer Stanzerei in Flint begann, hat inzwischen zur Schließung von 24 der 29 GM-Werke Nordamerikas geführt. Ihnen fehlen die aus Flint „just in time“ gelieferten Teile: Bleche für Türen und Kotflügel, Zündkerzen, Filter und Autoteile, die in nahezu allen GM-Modellen verwendet werden. Der Streik von 9.200 Arbeitern in Flint hat dadurch zur momentanen Beschäftigungslosigkeit von 121.500 Arbeitern in Kanada, den USA und Mexiko geführt. Mit der Schließung aller Werke von GM muß noch in dieser Woche gerechnet werden. Die Kosten für den vollständigen Produktionsausfall werden auf 500 Millionen Dollar pro Woche geschätzt.

Ein Ende des Arbeitskampfes ist nicht absehbar. Die UAW trifft sich seit Montag zum jährlichen Gewerkschaftstag in Las Vegas, und in der nächsten Woche beginnen bei GM die zweiwöchigen Betriebsferien, so könnte die Produktion bis Mitte Juli ruhen.

In Flint, wo Generationen bei General Motors gearbeitet haben, wurde jede Entlassung wie Untreue und Verrat empfunden, und jetzt fürchten viele, daß GM alle seine 18 Werke in Flint schließen will, die 60 Prozent der örtlichen Wirtschaft ausmachen. Hintergrund ist der Niedergang der amerikanischen Autoindustrie überhaupt. 1960 baute der heute noch weltgrößte Automobilhersteller GM (u.a.: Cadillac, Buick, Chevrolet, Oldsmobile), drei Fünftel aller in Amerika gefahrenen Autos, heute weniger als ein Drittel.

Während landesweit die Arbeitslosigkeit das Rekordtief von 4,3 Prozent erreicht hat, liegt sie in Flint bei 7,8 Prozent. GM hat in den vergangenen 20 Jahren die Zahl der Arbeitsplätze in Flint von 76.000 auf 35.000 reduziert. Die UAW befürchtet jetzt, daß weitere 11.000 Entlassungen bevorstehen. Die Werke in Flint spiegeln damit nur den nationalen Trend bei General Motors wider, das die Belegschaft seit 1980 von 450.000 auf 210.000 reduzierte.

Der Streik entzündet sich an einer Zusage, die GM letztes Jahr machte, nämlich 300 Millionen Dollar in die Modernisierung der Stanzerei zu investieren. Die Gewerkschaft findet, daß sich GM nicht an sein Wort gehalten hat, was als weiteres Zeichen für deren Abwanderungs- oder Verlagerungsbereitschaft gewertet wird. Das Management weist den Vorwurf zurück, schließlich wolle man 21 Milliarden Dollar bis 2002 in Flint investieren. Außerdem, kontert die Konzernleitung, widersetze die Gewerkschaft sich einer flexibleren Gestaltung der Arbeitsregeln und verhindere damit, daß aus den Investitionen ein Maximum an Produktivität herausgeholt werden kann. In diesem Streik wird das Erbe der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung mit deren zukünftigen Aufgaben verbunden. Es geht nicht nur um die Betriebsverlagerung ins Ausland, sondern um einen traditionellen Streit um die Kontrolle der Arbeitsabläufe in den Werkshallen. Den Vorwurf von GM an UAW versteht nur, wer um das stereotyp gewordene Zerrbild des amerikanischen Gewerkschaftlers weiß: Gewerkschaftlich organisierte Elektriker z.B. weigern sich, einen Fernseher zu verrücken, weil diese Aufgabe nicht in ihrer Arbeitsbeschreibung steht und weil sie zum Vertragsbereich einer ganz anderen Gewerkschaft gehört. Tatsächlich glaubt George C. Peterson, Vorsitzender von AutoPacific, einer Consultingfirma, die Trends im Automobilbau recherchiert, nachweisen zu können, daß in Werken, in denen die UAW keine Macht hat, die Arbeiter mehrfach angelernt und zu verschiedenen Aufgaben eingesetzt werden.

Historisch ist die starke Stellung der Gewerkschaften bei Mitbestimmung der Arbeitsabläufe als Reaktion auf die Organisierung von Fließbandarbeit über die Köpfe der Arbeiter hinweg zu verstehen. Im öffentlichen Bewußtsein aber vermengt sich diese Karikatur des Gewerkschafters mit der seines überbezahlten Vorsitzenden als Mafiaboß zum Schreckbild korrupter Gewerkschaften mit wenig Rückhalt in der Bevölkerung.

Die UAW spricht deshalb weitverbreitete Ängste vor Betriebsverlagerungen und vor dem berüchtigten Outsourcing an. Während GMs Konkurrenten Ford (53 Prozent) und Chrysler (65 Prozent) – von den Japanern ganz zu schweigen – die meisten Teile von Fremdfirmen herstellen lassen, fertigt GM die Teile für seine Autos zu 70 Prozent in Eigenregie – was den Streikenden heute zum Vorteil gereicht. General Motors hat mithin die höchsten Produktionskosten aller amerikanischen Autohersteller und die niedrigste Produktivität. Dave Cole, Fachmann für Autoverkehr und -industrie an der University of Michigan, rechnet vor, daß bei GM in Flint ein Arbeiter 100 Teile herstellt, während bei den amerikanischen Toyota-Werken der gleiche Arbeiter 400 Teile herstellt.

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