: Nicht protestieren, sondern regieren
■ An der Berliner Humboldt-Universität könnte heute zum ersten Mal ein Student Vizepräsident einer deutschen Hochschule werden
Berlin (taz) – Andreas Biesenthal will heute Hochschulgeschichte schreiben. Der 30jährige Geographiestudent möchte Vizepräsident der Berliner Humboldt- Universität werden. Es wäre das erste Mal in der deutschen Universitätsgeschichte, daß ein Studient in dieses Amt gewählt wird. Die erste Hürde hat er schon genommen: Der Akademische Senat setzte Andreas Biesenthal mit großer Mehrheit auf die Vorschlagsliste.
Zwar verlangt das Gesetz vom Uni-Präsidenten und seinem ersten Stellvertreter ein abgeschlossenes Studium und Berufserfahrung. Doch für die übrigen Stellvertreter gilt das nicht. Eine „Rechtslücke“, meint Berlins Staatssekretär für Wissenschaft, Erich Thies (CDU). Kandidat Biesenthal hingegen findet, Verwaltungsprofis seien auch die Professoren nicht, die das Amt üblicherweise bekleiden. Ein Student könne das Amt sogar besser ausfüllen, weil er noch nicht so sehr „Fachinteressen“ vertrete. Er könne die Chefetage der Uni um neue Sichtweisen bereichern, und er habe „naturgemäß“ ein stärkeres Interesse an der Lehre als die auf die Forschung fixierten Professoren.
Eine Revolution von oben will Biesenthal aber nicht entfachen – das würde auch schlecht zu dem Sozialdemokraten passen, der vier Jahre lang bei der Marine gedient hat. Auch wenn ihn damals mehr die „Leidenschaft zur Seefahrt“ trieb – als die Studentenvertreter gegen das öffentliche Bundeswehrgelöbnis protestieren, hat er sich lieber für befangen erklärt. Als Vizepräsident könne er ohnehin „nicht sofort studentische Utopien umsetzen“, weiß er. In diesem Amt sei „Teamfähigkeit“ gefragt.
Auch sonst wägt Biesenthal seine Worte wie ein Politiker, liegt ihm das Sowohl-Als-auch mehr als das Entweder-Oder. Anders als die meisten studentischen Aktivisten lehnt er etwa internationale Abschlüsse wie Bachelor oder Master nicht rundheraus ab – vorausgesetzt, sie verhinderten nicht das Weiterstudieren. Auch den Wunsch nach Eingangsprüfungen kann er „in manchen Momenten“ verstehen – vorausgesetzt, es ließen sich plausible Kriterien finden.
Seine Kandidatur soll aber auch ein Zeichen setzen, daß der Streik des vergangenen Wintersemesters nicht ohne Folgen geblieben ist. Diese Kontinuität hätte vielleicht ein anderer Kandidat besser verkörpert: Auf der Vorschlagsliste stand bis vor ein paar Tagen auch der Name von Rainer Wahls, der den Protest im Winter angeführt hatte und wie ein Volkstribun auf Vollversammlungen revolutionäre Reden schwang. Wahls will „subversiv handeln“, „Spielregeln verletzen“ und „Verwirrung stiften“. Das Amt des Vizepräsidenten, das weiß er selbst, wäre für ihn eine „schwierige Rolle“ gewesen. Deshalb hat er seine Kandidatur zurückgezogen.
Jetzt wollen die Studenten auf der Klaviatur von Konfrontation und Kooperation spielen, der Fundi Wahls und der Realo Biesenthal sollen die beiden Pole verkörpern. Rainer Wahls könnte sich durchaus vorstellen, notfalls auch eine Vollversammlung im Protest gegen einen Vizepräsidenten Andreas Biesenthal anzuführen. Und Biesenthal meint, ein Vizepräsident müsse manchmal „eine schwierige Entscheidung mittragen, gegen die er als Studentenvertreter Sturm laufen müßte“. Ralph Bollmann
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