: Überlebenskampf im grünen Bereich
Heute streikt ein Teil der Kassenärzte gegen das Honorarsystem. Beispiele wie die Hautärzte zeigen: Wer sich für Alltagskrankheiten Zeit nimmt, wird bestraft. Wer sich auf High-Tech verlegt, wird belohnt ■ Von Julia Naumann
„Sie sollten in den nächsten Tagen nur Kartoffeln oder Reis essen. Sonst rein gar nichts.“ Katharina Wirths Stimme ist bestimmt. Ihr Patient, Klaus L., ein kleiner Mann mit einer ordentlichen Portion Fett am Bauch, guckt etwas unglücklich. Doch angesichts der dicken roten Quaddeln auf seinen beiden Unterarmen, die wahrscheinlich durch eine phototoxische Reaktion beim Unkrautjäten verursacht wurden, nickt er dann doch gequält. Die Hautärztin schaut noch einmal auf ihren Computerbildschirm, um zu sehen, welche Behandlungen und Medikamente der Mann in den vergangenen Monaten bekommen hat. Schließlich verschreibt sie Klaus L. Tabletten und entläßt ihn mit den durchaus tröstenden Worten: „Das wird schon wieder.“
Mit dieser Behandlung hat Katharina Wirth 23,79 Mark brutto verdient – für zwölf Minuten Behandlung. Was wie ein guter (Minuten-)Lohn klingt, ist in Wirklichkeit nicht viel Geld. Für die Dermatologin sogar so wenig, daß sich die 37jährige immer wieder Sorgen um ihre Existenz macht. „Vor vier Monaten hatte ich wirklich Angst, daß ich meinen Laden zumachen muß“, sagt sie.
Das ist kaum vorstellbar, denn im Wartezimmer und auf den Gängen der 110-Quadratmeter- Altbauwohnung in der Friedrichshainer Schreinerstraße drängen sich an einem ganz normalen Montagmorgen die PatientInnen: Vom „Sozialfall bis zum Unternehmer“ sind nach Wirths Angaben alle Schichten vertreten. Die drei Behandlungskabinen, wo Verbände gewechselt und Bestrahlungen angewandt werden, sind besetzt. Zwischen 110 und 120 PatientInnen kommen durchschnittlich pro Sprechtag. Wirth, Mutter eines elfjährigen Sohnes, arbeitet durchschnittlich 60 Stunden die Woche.
Doch trotz der vielen PatientInnen muß sich die gebürtige Leipzigerin, die 1991 ihren Facharzt machte, eingestehen: „Ich werde in diesem Jahr im Vergleich zu 1996 50 Prozent weniger verdienen.“ Sie geht von rund 5.000 Mark im Quartal aus, von denen sie auch noch Einkommenssteuer, Renten- und Krankenversicherung abziehen müsse. Unter dem Strich bleiben der Ärztin also etwa 1.200 Mark im Monat zum Leben. Wieviel es aber genau sein werden, weiß sie nicht: Die Gelder der Quartalsabrechnungen werden durchschnittlich ein halbes Jahr später überwiesen, „da kann ich nur spekulieren“.
Ihr dramatischer finanzieller Verlust hat viele Ursachen: Als sie 1991 die Praxis eröffnete, lag die Miete noch bei 2.600 Mark kalt. Heute sind es 1.000 Mark mehr. Die Lohnkosten für ihre Angestellten stiegen vom vergangenen Jahr von 74.000 Mark jährlich auf 104.000 Mark. Zur Seite stehen der Dermatologin eine Arzthelferin, eine Krankenschwester und neuerdings eine Assistenzärztin, die hier einen Teil ihren Facharztausbildung absolviert.
Doch der gewichtigste Grund ist nach Angaben Wirths vor allem der enorme Verlust an kassenärztlicher Leistung: Geld von den Krankenkassen gibt es nach einem komplizierten Punktesystem, dessen Punktwert pro Quartal neu berechnet wird (siehe Kasten). Weil Katharina Wirth bisher überwiegend „Alltagskrankheiten“, also Ekzeme, Schuppenflechte und Akne behandelt, die alle im unteren, dem grünen Budget angesiedelt sind, verdient sie auch vergleichsweise wenig.
„Würde ich Feld, Wald- und Wiesendermatologie machen, könnte ich gleich zumachen“, sagt dagegen Johannes Milzer* , der seine Praxis in der Nähe des Nollendorfplatzes hat. Milzer, der erst seit 1996 praktiziert, behandelt deshalb im großen Stil „Spezialitäten“, wie er es nennt. Und die preist er auch an: So bietet er zum Beispiel in seiner 190-Quadratmeter-Praxis bei Schuppenflechte und Ekzemen spezielle Bädertherapien an. Außerdem hat er sich auf Hämorrhoidenentfernung spezialisiert und verödet regelmäßig Venen. Zusätzlich ist seine Praxis eine HIV-Schwerpunktpraxis. All diese Behandlungen bringen extra Geld: Die Badetherapie kostet 60 Mark pro halbe Stunde, die Kosten der Modellprojekte werden von den Ersatzkassen übernommen. Verdienst für Milzer bei durschnittlich 10 Bädern pro Tag: Rund 27.000 Mark pro Quartal. Einem bis zwei Patienten entfernt der 40jährige pro Tag die Hämorrhoiden in einer ambulanten Operation, was pro Vierteljahr 20.000 Mark einbringt. Venenoperationen macht Milzer zweimal die Woche für 250 Mark, das macht rund 9.000 Mark alle drei Monate. Für jeden Aids-Patienten bekommt er die doppelte Grundpauschale, also statt 35 nun 70 Mark. „Weil ich mich kaum im grünen Bereich bewege, Operationen anbiete und viele Privatpatienten habe, verdiene ich ganz gut“, sagt Milzer. Sein Verdienst ist mehr als zehnmal höher als der von Katharina Wirth: Er bewegt sich nach eigenen Angaben um rund 65.000 Mark pro Quartal, davon geht jedoch die Hälfte für Steuern und Altersversorgung ab. Milzer arbeitet rund 70 Stunden die Woche. „Ich liege damit im oberen Mittelfeld“, sagt er.
Doch Milzers Spezialangebote sind auch mit einem hohen finanziellen Risiko verbunden: Rund 800.000 Mark hat der Arzt in seine Gerätschaften investiert, die vom speziell konstruierten Operationstisch bis zum Laserstrahl reichen. Durch zahlreiche extrem kostenspielige Weiterbildungen kann er viele kostspielige Behandlungen machen. Doch auch der personelle Aufwand ist wesentlich höher: Milzer beschäftigt drei vollbeschäftigte und vier Teilzeitarzthelferinnnen. „Nähe ich einen Analriß“, sagt Milzer, „dauert das anderthalb Stunden, und der Patient muß danach noch einige Stunden betreut werden.“ Dafür bekommt der Dermatologe von der Krankenkasse 38 Mark, von einer Privatversicherung dagegen 1.200 Mark. Deshalb versucht er, immer mehr Privatpatienten zu akquirieren, die momentan 15 Prozent seiner PatientInnen ausmachen.
Für Milzer spielt der betriebswirtschaftliche Aspekt beim Arztberuf eine gewichtige Rolle: „Man muß den Leuten die Medizin verkaufen und sie immer wieder über das Leistungsspektrum informieren“, meint er. Aber: „Unter 100 Mark Honorar fange ich gar nicht erst an zu schneiden.“ Dafür biete seine Praxis auch einiges: Für Privatpatienten gibt es spezielle Sprechstunden ohne lästige Wartezeiten. Die Praxis ist in sanften Farben gestrichen und mit vielen Pflanzen und gemütlichen Sofas und Sesseln bestückt. Die Helferinnen tragen keine plumpen weißen Kittel, sondern eine Uniform mit eigenem Design. Sein Klientel reiche „von jungen Leuten über Angestellte bis hin zu bekannten Persönlichkeiten“. Doch auch sein „ausgefeiltes Gesamtkonzept“ ist nicht wirklich krisensicher: Die Leistungsziffer 9053, die für jeden Aids-Patienten 120 Mark pro Quartal außerhalb des Budgets bringt, wird Ende 1998 gestrichen, das Modellprojekt der Bädertherapie läuft auch aus. Milzer möchte deshalb den Anteil der kosmetischen Behandlungen erhöhen.
Katharina Wirth muß dagegen radikal umstrukturieren, doch damit steht sie noch ganz am Anfang. Auch sie glaubt ähnlich wie Milzer daran, daß die „Philosophie der kostenfreien Medizin“ falsch sei. Doch hat sie wie ihr Kollege die Erfahrung gemacht, daß die Patienten immer häufiger bereit sind, Leistungen privat zu bezahlen. Zum Beispiel kosmetische Behandlungen, wie das Entfernen von Altersflecken, die keinen Krankheitswert haben. „Ich habe solche Leistungen im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent erhöht“, sagt Wirth. Die Dermatologin bietet jetzt auch zum Beispiel ein Fruchtsäure-Peeling für die Haut an, das pro Sitzung zwischen 90 und 200 Mark kostet. Ihre Umstrukturierung fängt jedoch auch mit Kleinigkeiten an: „Früher hätte ich einem armen Mütterchen das Attest auch schon mal kostenlos gegeben, heute nehme die Gebühren dafür“, sagt sie fast entschuldigend. Für eine Zusatzausbildung zur Allergologin hat Wirth außerdem in Fortbildungskursen noch mal die Schulbank gedrückt. „Dieses System ist absurd“, ärgert sich Wirth, „denn ich habe das alles bereits in der Facharztausbildung gelernt.“
Patienten wie Klaus L. will und wird Wirth weiterhin behandeln: „Die Mehrzahl der Hautpatienten hat eben ganz normale Erkrankungen wie Akne und Ekzeme.“ Doch die Behandlung dieser Krankheiten werde viel zu schlecht bezahlt. Überleben könne ein Hautarzt nur noch, so ihre Beobachtung, wenn er oder sie zusätzlich private Leistungen anbiete.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen