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Wie weit rechts ist recht(s)?

Ein Buch über die Rechtsprechung zu Fahrradunfällen bei Bundes- und Oberlandesgerichten zeigt: Juristisch wird Fahrradfahrern ein größerer Bewegungsraum gewährt, als die Praxis auf der Straße vermuten läßt  ■ Von Ole Schulz

Feierabendverkehr in der Brückenstraße, kurz vor der Jannowitzbrücke. Ralf B. quetscht sich mit seinem Rad so weit wie möglich rechts an den Fahrbahnrand, während sich ein Auto nach dem anderen durch dieses Nadelöhr zwischen Kreuzberg und Mitte an ihm vorbeizwängt. Als ihm ein Schlagloch in die Quere kommt, macht er einen kleinen, vorsichtigen Schlenker nach links, und prompt rastet sein motorisierter Hintermann aus. An der nächsten Kreuzung schneidet ihn der Wagen so heftig, daß Ralf bei der Vollbremsung kopfüber vom Rad fällt. Als er sich wieder aufrappelt, sieht er nur noch die Rücklichter eines weißen Sportwagens, der mit Vollgas davonbraust.

Wer gelegentlich mit dem Fahrrad auf Berlins Straßen unterwegs ist und mit ruppigen Autofahrern, zugeparkten Radwegen oder durch Baustellen verengten Straßen Bekanntschaft gemacht hat, weiß, wovon die Rede ist. Weniger bekannt dürfte dagegen sein, daß Radfahrer mehr Rechte haben, als der gemeine Autofahrer glauben mag.

Um den Zweiradfahrern zu ihrem Recht zu verhelfen, hat Dietmar Kettler die Rechtsprechung zu Fahrradunfällen – vor allem der Bundes- und Oberlandesgerichte – ausgewertet und daraus ein Buch gemacht. Das Fazit Kettlers, Rechtsanwalt und Landesvorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs Schleswig- Holstein, lautet: „Schikaniert wird der rechtstreue Radfahrer mehr von den realen Verhältnissen auf der Straße als von der Rechtsprechung.“

Radfahrern könne beispielsweise nicht verwehrt werden, schließt Kettler aus den vorliegenden Urteilen, sich auf vierspurigen Straßen mit schmalen Fahrstreifen in der Mitte der rechten Fahrspur zu halten, um Autofahrer an gefährlichen Überholmanövern zu hindern. „Ein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot liegt hierin nicht, denn dieses verletzt nur, wer sich ohne vernünftigen Grund nicht auf seiner Seite rechts hält. Der Schutz des eigenen Lebens – und anders ist hier kein Schutz möglich – ist aber allemal ein vernünftiger Grund.“

Apropos Rechtsfahrgebot. Die erste Regel für Radfahrer bei der Straßenbenutzung heißt zwar: „Rechts halten.“ Strittig sei nur, so Kettler, „wie weit rechts denn rechts ist“. Mindestens 80 Zentimeter Abstand zur Bordsteinkante seien angebracht, gegebenenfalls könne es auch deutlich mehr sein, urteilte zum Beispiel der Bundesgerichtshof. Denn Radfahrer sollen nicht gezwungen werden, etwa über tiefe Gullydeckel oder durch Pfützen am Fahrbahnrand zu fahren – unter deren Oberfläche könnte sich ja schließlich Ärgeres als nur Wasser verbergen.

Hin und wieder wird auch ein gewisser Sicherheitsabstand zu parkenden Autos vorgeschrieben – der Verkehrsminister empfiehlt einen Meter –, sonst kann dem Radfahrer eine Teilschuld zugeschrieben werden, wenn er gegen eine sich öffnende Fahrertür prallt. Also Radfahrer, ab auf die Fahrbahnmitte, und wehe dir, Autofahrer, wenn du dann die Hand nicht von der Hupe nimmst!

Mehr Freiheiten könnte Radfahrern auch die am 1. September 1997 in Kraft getretene Änderung der Straßenverkehrsordnung bringen. Theoretisch dürfen seitdem besonders gekennzeichnete Einbahnstraßen von Radfahrern in beide Richtungen befahren werden. Allerdings ist die Regelung nicht nur auf Tempo-30-Zonen beschränkt, sondern sehen die Verwaltungsvorschriften, die im Hause des Verkehrsministers Wissmann zusätzlich erlassen wurden, weitere Einschränkungen vor. In Berlin wurden mit der Siegfriedstraße (Neukölln), der Berlinickestraße (Steglitz) und dem Kiebitzweg bei der FU Berlin (Zehlendorf) bislang nur drei Einbahnstraßen für den Radverkehr in Gegenrichtung freigegeben. Eine andere Neuerung wird dagegen mehr verändern: Ab dem 1. Oktober dieses Jahres müssen Radfahrer nur noch speziell beschilderte Radwege benutzen. „Im Regelfalle“, so verspricht der Verkehrssenat, können die Radfahrer dann „frei wählen, ob sie vorhandene Radwege oder die Fahrbahn benutzen wollen“.

Wer Kettlers nüchtern geschriebenes Buch gelesen hat, ist sicherlich gewappnet, beim nächsten Wortgefecht mit einem cholerischen Autofahrer mit Justitias Argumenten zu kontern. Ob sich der Angesprochene nicht einmal mehr durch den Tritt aufs Gaspedal einfach aus der Affäre zieht, sei dahingestellt.

Das Buch „Recht für Radfahrer“ zeigt exemplarisch, wie weit die Verrechtlichung zwischenmenschlicher Beziehungen in einem gesellschaftlichen Teilbereich gehen kann. Ob juristische Mittel allein aber ausreichen, um den Umgang zwischen den Menschen in einem hochsensiblen, emotionsgeladenen Bereich wie dem Straßenverkehr wirklich freundlicher zu gestalten, ist indes eine andere Frage. Jedenfalls ist einem nach der Lektüre ein bißchen der Spaß daran vergangen, sich als pedaltretender Glücksritter im Großstadtdschungel durchzuschlagen. Denn der Reiz des Radfahrens liegt ja nicht zuletzt in der Freiheit, leichter und ungenierter bürokratische Regeln brechen zu können, wo man doch ohnehin ständig durch den Autoverkehr belästigt und gefährdet wird.

Nur geht das eben nicht selten zu Lasten der schwächsten Verkehrsteilnehmer, nämlich der Fußgänger. Daß Radfahrer an sich keinesfalls die rücksichtsvolleren Menschen sind, beweist ein Blick auf die Unfallstatistik: Mit den Fußgängern gehen die Radfahrer in der Regel ebenso rüde um wie die vielfach gescholtenen Autofahrer mit ihnen selber – in zwei Drittel der Fälle ist der jeweils Stärkere der Schuldige.

Dietmar Kettler: „Recht für Radfahrer“. BLV Betriebsgesellschaft, München 1998, 118 Seiten, 19,90 DM

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