: Hineinbeißen wie ein wilder Hund
Ein Symposium im Berliner Haus der Kulturen der Welt suchte nach dem Schnittpunkt von neuen und alten Formen der Kulturaneignung. Das Ergebnis: Alle knabbern einander an der Identität herum ■ Von Volker Weidermann
Als die ersten Europäer Amerika aufsuchten, waren sie sicher, auf Menschenfresser zu stoßen. Sie wollten sie treffen. Erstens, um das Monströse, das unvorstellbar Andere zu erleben, und zweitens, strategisch gedacht, um von jener Monstrosität, jener Abartigkeit der Anderen das universelle Recht auf Kolonialisierung, auf Krieg gegen das Antimenschliche abzuleiten. Und da man jene Kannibalen um jeden Preis finden wollte, fand man sie auch, wenn auch nur in der Vorstellung.
Nicht nur Menschenleben wurden deshalb zu Hunderttausenden vertilgt, auch die Kulturleistungen der Neuen Welt eignete man sich vollkommen an, warf sie in den großen Rachen der europäischen Zivilisation, schmolz Kunstwerke ein, wenn sie nur eine Spur Gold enthielten, und fertigte seine eigenen Kulturgüter daraus. Ein Recycling, das nichts als Einverleibung war und fremde Kulturen als bloße Rohstoffe verstand, die verflüssigt werden müssen, um sie zu den bekannten Gütern der eigenen Kultur wieder zu verfestigen, handhabbar und wirklich wertvoll zu machen.
Kannibalismus und Recycling, das waren zwei der vier Metaphern, mit denen man am Wochenende im Haus der Kulturen der Welt versuchte, Formen der Kulturaneignung von heute in Bilder zu fassen. Hybridisierung und Translatio waren die beiden anderen. Man interpretierte all diese Begriffe auf recht unterschiedliche Weise, und nicht immer waren Verbindungslinien erkennbar. Zum Glück war auch Robert Coover zu Gast, der Großvater der postmodernen Literatur der Vereinigten Staaten, der ohne große Probleme all diese Begriffe in seinem Werk vereinigt: Er habe für dies Symposium seine Bücher richtig kannibalisieren müssen, sagte Coover (und meint damit ausschlachten, zerfleddern und verwendbar machen), und habe nun also die schönsten kannibalistischen Szenen zusammengestellt. Dann stockt er, blickt auf die Serviette, mit der sein Brötchenteller geschmückt ist, auf der „Schwangere Auster“ steht – eigentlich nur der Spitzname der Kongreßhalle, in der das Haus der Kulturen der Welt untergebracht ist. Doch Coover ist sicher, hier eine Kulturspur seines Kollegen Paul Auster aufgefunden zu haben, und ruft entzückt: „Hey! Cannibalized again!“
Kulturaneignung überall! Dann liest er die schönsten lebensverschlingenden Textausschnitte aus seinem Werk. Wie sein Pinocchio aus „Pinocchio in Venedig“ seinen Vater Gepetto im Magen eines Riesenfisches besucht, wie Uncle Sam, Richard Nixon und der Tabernakel-Chor der Mormonen, unentwegt Song-Zitate schreiend, zur Exekution von Atomspionen auf dem Times Square in „Public Burning“ aufrufen und wie Johns wife aus „Johns wife“ von ihrer alles erfüllenden Überpräsenz verschlungen wird.
Coover ist aber vor allem auch, darauf wies Heinz Ickstadt (Berlin) hin, ein großer Recycler unterschiedlichster Kulturgeschichte. Ein Wiederverwender der Müllberge von mißachteten, vergessenen, scheinbar abgestorbenen kulturellen Zeichen, ein Neuverwerter von Gefühls- und Seelenschrott. Coover ist, so Ickstadt, auch ein Entdecker von subversivem Material in der etablierten Hochkultur. Aus Trash Treasure machen, wird ihm als Motto eingeschrieben.
Dietmar Kamper (Berlin) meinte dagegen, daß es Aufgabe des Künstlers sei, aus Treasure Trash zu machen – also unverdaulich zu sein, eklig, giftig, um vom „Kannibalismus der Zivilisation“ nicht verschlungen zu werden. Im altbekannt Adornoschen Sinne sprach er vom „gefräßigen Bauch des Systems“, dem zu entkommen fast unmöglich sei. Er verstand unter Kannibalismus die verschlingende Gefräßigkeit der Hegemonialmacht anstrebenden westlichen Kultur: Don't eat me, Kulturindustrie! Und er beklagte eine nur mehr virtuell erfahrbare Welt, in der Gewalt auf Dauer eskalieren werde, denn kein anderer Zugang zur realen Welt, zur Welt der Körper, sei bald mehr möglich.
„Und was ist mit Michael Jordan, dem Athletenkörper schlechthin?“ fragt Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford) den Virtualitätskritiker Kamper? „Durch mediale Vermittlung bleibt an dem doch nichts Körperliches mehr“, meint dieser. Doch Gumbrecht sagt: „Nächstes Mal nehm ich dich mal mit ins Stadion. Da ist volle Körperlichkeit.“
Gumbrecht gehörte zu den Teilnehmern, die die Metapher des Kannibalismus auch positiv deuten: Die westliche Kultur der Repräsentanz, des subjektzentrierten Kulturverständnisses, sähe er gerne ersetzt durch eine Präsenz herstellende Aneignung des Vorhandenen. Für die Begegnung mit dem Fremden heißt das: „In das Fleisch des anderen beißen wie ein wilder Hund, statt dem anderen aus der Distanz der bloß geistigen Beziehung sehr abstrakte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“
Das ist allerdings immer noch eine weit weniger radikale Reaktion auf die Erfahrungen des hegemonialen Kulturanspruchs der Moderne, wie sie etwa 1928 in einem Menschenfresser-Manifest brasilianischer Modernisten als Programm einer Gegenmoderne formuliert wurde: „Und so weckte die Erfahrung der Moderne in jedem Gast den Appetit, seine Gabeln in den Nachbarn zu rammen. Das fröhliche Verspeisen hat schon begonnen.“
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