SPD will Politikwechsel, aber nicht jeden

Auf einem Kongreß verteidigt Parteichef Lafontaine den designierten Wirtschaftsminister Stollmann. Lafontaine spricht sich für eine Politik der Vollbeschäftigung aus, die den Widerspruch mancher Experten weckt  ■ Aus Berlin Dieter Rulff

Das CinemaxX an der Schönhauser Allee im Bezirk Prenzlauer Berg ist eines jener Kinos, denen nachgesagt wird, daß sie demnächst den Markt beherrschen werden. Die kühle Glas- Stahl- Konstruktion seines Interieurs integriert sich bruchlos in die sie umhüllenden restaurierten Außenwände aus Backstein und Butzenscheiben. Als diese vor hundert Jahren errichtet wurden, diente der Ort zum Wechsel der Tram- Pferde. Der SPD diente er gestern zum Politikwechsel.

Dies war das Motto eines Kongresses, mit dem die Partei ihre Zukunftsfähigkeit unter Beweis stellen wollte. Auch die SPD will ab September ihren Markt beherrschen. Die Kombination von Bewahren und Verändern, die die Architektur des Ortes charakterisiert, war also durchaus Programm. Nun ist der Politikwechsel mittlerweile zur Bewegungsform aller Parteien geworden, keine, die ihn nicht für sich reklamieren würde. Die SPD genießt Attraktivität, weil sie den Politikwechsel zuvörderst an sich selbst zelebriert. Vorläufig letztes Beispiel: Schröder holte den Unternehmer Jost Stollmann in sein Wahlkampfteam, wohl ahnend, daß dessen Aussagen zur Mitbestimmung und zum Bündnis für Arbeit den Groll gestandener Gewerkschafter wie die stillschweigende Zustimmung vieler Unternehmer provozieren.

Während des Kongresses saß dieser Groll massiv in der ersten Reihe, die spärliche Zustimmung verteilte sich Raum. Gegen die Engelen-Kefers direkt vor ihm verteidigte der Vorsitzende Oskar Lafontaine, daß „die Partei sich öffnet für sachliche Mitarbeit von außen“. Den Kritikern bescheinigte er, eine naive Vorstellung vom Bündnis für Arbeit zu haben, als handele es sich dabei um ein Geben und Nehmen. Im übrigen passe ein Unternehmer, der die Einbindung seiner Mitarbeiter auf Teilhabe aufbaue in das sozialdemokratische Programm.

Das steht zwar so nicht im Programm, aber in den anschließenden Diskussionen zur Zukunft der Arbeit erweckten Experten, wie auch der Abgeordnete Schwanitz, den Eindruck, als gehöre es da rein. Der Direktor des Max- Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Streeck, hat die Bündnisse für Arbeit in den europäischen Ländern verglichen. (Bestandteil sei bei allen die Senkung der Kosten des Faktors Arbeit gewesen und im Gegenzug die Schaffung von Vertrauen, daß die Reform nicht ohne soziale Absicherung geschieht.) Streeck dämpfte übertriebene Erwartungen eines Erfolges, dieser lasse sich eher mittelfristig konturieren.

An den Erfolgen auf dem Arbeitsmarkt will Kanzlerkandidat Gerhard Schröder seinen Politikwechsel messen lassen. Um die Schritte auf diesem Weg drohen möglicherweise harte Auseinandersetzungen. Noch ist die Partei von dem Optimismus Laontaines getragen, daß Vollbeschäftigung wieder erreichbar sei, wenn man nur die Instrumente einer nachfrageinduzierten Konjunkturpolitik richtig einsetze. Den europäischen Notenbanken warf er eine falsche Konzentration auf die Preisstabilität vor und hielt ihnen die Federal Reserve Bank der USA vor, die sich stärker auf die Konjunkturimpulse konzentriert habe. Der amerikanische Arbeitsmarkt, vor Jahren noch wegen der ihm innenwohnenden Ungerechtigkeiten von den Sozialdemokraten mit Naserümpfen betrachtet, dient mittlerweile als leuchtendes Beispiel einer gelungenen Konjunkturpolitik. Doch bestreiten Experten wie Warnfried Dettling oder Patrick Liedke, daß selbst in ihrer amerikanischen Mischung Lafontaines Rezeptur reicht, um das oberste sozialdemokratische Ziel zu erreichen. Liedke, der für den Club of Rome eine entsprechende Studie geschrieben hat, stellte gestern sein Modell einer Grundsicherungsschicht an Arbeit vor, mit dem der erste Arbeitsmarkt ergänzt werden solle. Staatlich finanzierte Beschäftigung, verpflichtend für jedermann, der kann, bezahlt knapp über dem Sozialhilfesatz. Das war für viele Anwesende harte Kost. Der konservative Sozialphilosoph Dettling ging davon aus, daß eine Beschäftigungspolitik, die Arbeitslosigkeit durch Förderung des dritten Sektors vermeidet, „die Machtfrage“ aufwerfe. Denn es gelte dann, ideologische Besitzstände zu knacken, bei den Unternehmensverbänden wie auch bei den Gewerkschaften.