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Vom Narzißmus und der Inflation der Rechte

Vor fünfzig Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet. Sie legt ein hohes Maß an Vertrauen in die Gattung Mensch zugrunde. In den letzten fünfzig Jahren sind eine Reihe weiterer Rechte auf internationaler Ebene hinzugekommen. Nicht selten treten sie in Konkurrenz zueinander, bisweilen wird mit ihnen Handel betrieben. Die Geschichte der Menschenrechte nach dem Holocaust zeigt, daß ein Eintreten für sie künftig ohne optimistischen Fortschrittsglauben wird auskommen müssen.  ■ Von Michel Ignatieff

In seinem Buch „Ist das ein Mensch“ beschreibt Primo Levi, wie er von Dr. Pannwitz, Chef der chemischen Abteilung von Auschwitz, ausgefragt wird. Levi war Chemiker von Beruf. Eine Arbeit in der chemischen Abteilung könnte ihn vielleicht vor der Vernichtung bewahren. Als er in seiner KZ-Uniform auf der anderen Seite des Schreibtisches stand, sah Dr. Pannwitz ihn an, als blicke er auf einen Fisch im Aquarium. So war Primo Levi noch nie von jemandem angesehen worden – und er hat die Bedeutung dieses Blickes nie vergessen. Eine Geschichte der moralischen Phantasie unserer Zeit hätte die Entstehungsgeschichte dieses „Aquarium-Blickes“ des Dr. Pannwitz zu liefern. Hier fand eine Begegnung zweier Menschen statt, als sei es die zweier Gattungen.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 war das Werk der ersten Generation, die ihr Maß in Auschwitz zu suchen hatte. Wenn ein Dr. Pannwitz einen Menschen ansehen konnte und nichts anderes wahrnahm als eine von ihm unterschiedene Spezies – wie konnte man dann je wieder an eine moralische Universalität glauben?

Der Erklärung der Menschenrechte liegt ein bestimmtes Maß Vertrauen in die Gattung Mensch zugrunde. Aber wieviel Vertrauen ist danach noch möglich? Vor 1945 waren individuelle Rechte auf internationaler Ebene nur je zugesprochen worden in den Verträgen zur Abschaffung der Sklaverei, der Kriegsrechtskonventionen von Genf und Den Haag und im Minderheitenschutzparagraphen des Versailler Vertrags. Diese Rechte wurden jedoch nur aktiviert für Mitglieder bestimmter Gruppen und in besonderen Umständen. Erst nach 1945 hat der einzelne den Status einer juristischen Person im internationalen Recht erlangt – für sich genommen ist das von größerer Bedeutung als die Etablierung der spezifischen Rechte selbst. Insofern markiert das Jahr 1948 die Geburt dieses bestimmten Typus Individuum als global geltende Kategorie.

Zwischen 1945 und 1951 wurde dieser universal geltende Einzelne nicht nur in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte eingeschrieben, sondern auch in die UN-Charta, ins Nürnberger Gesetz, die Völkermord-Konvention, die Genfer Konvention, die Europäische Konvention der Menschenrechte – und schließlich auch die Erklärungen der UNO zu Rassenfragen, in denen prominente Anthropologen den Pannwitzschen Aquarium- Blick wissenschaftlich zu exorzieren unternahmen. Alle genannten Dokumente bezeugen den Glauben an eine moralische Allgemeingültigkeit. Aber das Bewußtsein, daß ein Dr. Pannwitz existiert hatte, blieb untergründig präsent. So hat die Erklärung der Menschenrechte in ihre Präambel die Barbarei eingeschrieben: „In Anbetracht der Tatsache, daß Geringschätzung und Mißachtung der Menschenrechte zu Handlungen der Barbarei geführt haben und das Gewissen der Menschheit entsetzt...“ In der Bürgerrechtserklärung von 1791 war noch keine Rede von der Barbarei. Unser Erbe nach 1945 ist davon geprägt.

Was hat die Erklärung der Menschenrechte darüber hinaus an gemeinsamen Grundlagen geschaffen? Sie hat die Rede von den Rechten universal gemacht. Immerhin heißt das, daß man seither die gleiche Sprache spricht – auch wenn wir nicht alle dasselbe sagen. Denn die Universalität der Menschenrechte beendet nicht etwa jeden Streit über ihre Auffassung. Im Gegenteil, der Streit fängt mit ihnen erst an.

Immerhin sind die meisten Konflikte heute Konflikte über konkurrierende Rechte, und daß die jeweiligen Kontrahenten die Sprache der Rechte verstehen, heißt nicht, daß sie deshalb notwendigerweise schneller Lösungen fänden. Der Grund dafür liegt nicht nur in der unterschiedlichen Auffassung verschiedener Kulturen und Ideologien über Inhalt und Anwendung von als universal anerkannten Rechten. Vielmehr bleiben entscheidende Reibungen zwischen den Rechten selbst bestehen.

Die UN-Charta wendet sich an Staaten, die Erklärung der Menschenrechte an den einzelnen. In den vergangenen fünfzig Jahren haben sich sämtliche Regime, die sich Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, hinter der Garantie auf staatliche Souveränität und Nichteinmischung verschanzt, die in der UN- Charta garantiert ist. Als Antwort darauf hat sich inzwischen durchgesetzt, daß dieses Recht auf staatliche Souveränität durch Menschenrecht gebrochen wird – mindestens in Katastrophenfällen, in denen es um grobe, sichtbare und tendenziell massenmörderische Verletzungen der Menschenrechte geht. Allerdings gilt dies, wie uns die schmerzliche Liste des Scheiterns in Ruanda, Kurdistan und Bosnien zeigt, bisher nur in der Theorie. Eine weitere Spannung existiert auch zwischen Universalien des Rechts in bezug auf die zwei unterschiedlichen Traditionen internationalen Rechts: das des Genfer Kriegsrechts und der Erklärung der Menschenrechte selbst.

Die Genfer Konvention akzeptierte Krieg als normales, sogar rechtmäßiges Mittel zur Beilegung eines Streits, während die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Krieg wesenhaft als Verletzung moralischer Normen begreift. Artikel eins der Erklärung spricht von der Verpflichtung der Menschen, sich „zueinander im Geist der Brüderlichkeit“ zu verhalten. Wie immer man Krieg definieren will: ein Akt der Brüderlichkeit ist er nicht. Und eine dritte Spannung herrscht auf der Ebene der unterschiedlichen Traditionen, zu denen sich die Demokratien des Westens und die kommunistische Welt bekennen: das ist die der politischen Rechte und Bürgerrechte einerseits und die der sozialen und ökonomischen Rechte andererseits. Beide Traditionen stammen aus der Aufklärung und beide beanspruchen deren emanzipatorisches Erbe.

Die Erklärung der Menschenrechte wurde verfaßt, als der Kalte Krieg sich mit der Teilung Berlins, der Etablierung kommunistischer Regierungen in Osteuropa und der Gründung der Nato im Westen auszubreiten begann. In diesem Zusammenhang wurden aus den gemeinsamen Grundlagen schnell Waffen im ideologischen Krieg der Supermächte, so daß beide Seiten zwanzig Jahre lang die Erklärung der Menschenrechte benutzten, um sich gegenseitig die Leviten zu lesen – während man die eigene Rechtssituation gleichzeitig hinter der staatlichen Souveränitätsgarantie der UN-Charta versteckte.

In den siebziger Jahren hatte sich der Kalte Krieg zu einem System der Komplizenschaft entwickelt. Der Westen schwieg über Menschenrechtsverletzungen und erkaufte sich damit die sowjetische Kooperation zur Aufrechterhaltung der bestehenden geopolitischen Ordnung. Die Schlußakte von Helsinki war 1976 gedacht als Ratifizierung dieses Systems. Der Westen akzeptierte den sowjetischen Einfluß in Osteuropa gegen die Garantie eines Schutzes der Menschenrechte innerhalb des sowjetischen Einflußgebietes. In Helsinki akzeptierte die kommunistische Welt, daß es weltweit nicht zwei, sondern nur eine Auffassung von Menschenrechten geben kann. Diese Konzession war durchaus nur als Symbol gemeint – aber sie hatte unerwartete Konsequenzen. Zuerst in Polen, dann in der Tschechoslowakei und schließlich in ganz Osteuropa formten sich Gruppen, die ihre Regierungen aufforderten, die Versprechen von Helsinki einzuhalten. Die Sprache der Menschenrechte versetzte die Menschen Osteuropas in die Lage, ihre Herrscher in deren eigene Falle laufen zu lassen.

Zur Unterstützung dieser Gruppen und um das Komplizentum der Regierungen zu brechen, entstanden Bürgerrechtsorganisationen wie amnesty international, Index on Censorship und Human Rights Watch. Das bedeutet, daß in den achtziger Jahren die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte praktisch eine große Menge Menschen als globale Menschenrechtsaktivisten hinter sich gebracht hatte. Die Erklärung hatte das Individuum vom Staat abgekoppelt und befreit: jetzt taten solche Individuen sich zusammen und erfanden eine neue Gemeinschaft. Sie knüpften ein globales Netzwerk von Aktivisten, die sich schnell und wirksam des politischen Instruments öffentlicher Bloßstellung bediente. Zum erstenmal mußten repressive Regierungen zur Kenntnis nehmen, daß Repression Kosten hat. Diesem Druck von unten ist es zu verdanken, daß Menschenrechte einen Platz in der internationalen Politik einnehmen konnten.

Im Laufe der achtziger Jahre beschleunigte der innere und äußere Druck von Menschenrechtsgruppen den moralischen Verfall des Kommunismus. Und insofern war der Zusammenbruch des Sowjetreichs durchaus eine Folge der Menschenrechtsrevolution, die 1948 begonnen hatte. Seit Helsinki gab es weltweit nur noch eine Kultur der Menschenrechte. Das hieß jedoch nicht, daß diese nicht mehr weiter von außen bestritten und von innen hinterfragt würden. Nationen mit einer eigenen Menschenrechtstradition – Frankreich, Großbritannien und die USA beispielsweise – haben sich oft eines gewissen Narzismus in der Frage der Menschenrechte schuldig gemacht. Sie empfinden es als empörend, wenn ihre eigene Menschenrechtssituation von internationalen Gremien kritisiert wird. Es ist dieser Rechte- Narzismus, der in Großbritannien zur Ablehnung aller Fälle führt, in denen die Urteile britischer Gerichte vor dem Europäischen Gerichtshof unter die Lupe genommen werden. Derselbe Narzismus ist in Amerika am Werke, wenn nämlich die Gesetze zur Anwendung der Todesstrafe von internationalen Menschenrechtsorganisationen kritisiert werden.

Neben diesem Rechte-Narzismus hat sich ein weiteres, problematisches Phänomen ergeben: die Inflation der Rechte. Ursprünglich hatten die Gründerväter und –mütter der Erklärung ein präzises Dokument im Sinn, das nur solche Rechte enthalten sollte, deren universale Akzeptanz unbestritten war. Inzwischen gibt es viele internationale Konventionen und Menschenrechtsbestimmungen, die die Rechte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verstärken und spezifizieren sollten. Einige dieser Konventionen sind in ihrer Hinzufügung von Detail und Spezifizierung allgemeiner Prinzipien durchaus sinnvoll, beispielsweise in bezug auf die Rechte von Frauen und Kindern. In anderen Fällen hat die Vermehrung der Rechtsdokumente den Wert des Rechte-Diskurses selbst eher geschmälert.

Diese Vermehrungstendenz ist vielleicht eine ganz logische Reaktion auf Unterschiede in der Auffassung von Rechten. Im Kontext der rivalisierenden Auffassungen von zivil-politischen und sozial-ökonomischen Rechten, wie sie in der Zeit des Kalten Krieges auf der internationalen Bühne herrschten, war es eine begreifbare Lösung, beides in separaten Konventionen zu formulieren, d.h. lieber einen Kompromiß zu finden, als die gesamte Liste auf einen winzigen Kern zu reduzieren. Die Inflation der Rede von den Rechten – alles nur Wünschenswerte durchaus als Recht zu bezeichnen – hat jedoch zur Folge, daß der Wert und die Legitimität der gesamten Terminologie des Rechts verwässert wurden.

Neben dem Rechte-Narzismus und der Rechte-Inflation gibt es zudem das Phänomen des Handels mit Rechten. Mächtige Staaten wie Großbritannien, Frankreich und die USA sind bereit, ihre Kritik an den Menschenrechtszuständen in anderen mächtigen Staaten, sagen wir China oder dem Iran, abzumildern gegen Handelskonzessionen oder andere wirtschaftliche Vorteile. Sich das Bestehen auf die Einhaltung der Menschenrechte abhandeln zu lassen, verstößt nicht nur gegen das Universalitätsprinzip selbst, sondern mißversteht auch die Priorität der Menschenrechte als essentiell moralische Forderung. Der Punkt ist, daß die Sprache des Rechts als moralische Trumpfkarte funktionieren soll. Rechte können nicht gegen irgendwelche Güter auf dem Markt gehandelt werden. Wenn das der Fall wäre, wozu sollte man dann überhaupt von „Rechten“ sprechen?

Solcherart Verrat, der in der Inflation der Rechte, dem Rechte-Narzismus und Einhandeln von Wirtschaftskonzessionen gegen Rechte liegt, wird nun nicht etwa von denen begangen, die zu den Feinden der Menschenrechtstradition der Aufklärung gehören, sondern von ihren angeblichen Freunden. Wer solche Freunde hat, braucht eigentlich keine Feinde mehr.

Aber auch die gibt es: Staaten, denen die Universalität der Rechtsnorm selbst ein Dorn im Auge ist. Einer der mächtigsten unter ihnen ist China. Zwar behauptet die chinesische Regierung, der Individualismus dieser Rechtsnorm stehe im Widerspruch zur chinesischen Kultur. Aber Tatsache ist, daß diese Rechtsnorm nicht die chinesische Kultur bedroht, sondern die Regierung. Umgekehrt schafft es die Regierung, dem chinesischen Volk vorzumachen, sein Überleben hinge von ihrem Überleben ab. Der Kern der chinesischen Argumentation gegen unsere Auffassung von Menschenrechten ist, daß individuelle Rechte den Zusammenhalt der Nation gefährden. Würde man diese akzeptieren, würden politischer Pluralismus und Konkurrenz auf dem Fuße folgen. Und wenn das passiert, würde das Land sich spalten und in bürgerkriegsähnliche Zustände versinken. Hinter der ideologischen Opposition gegen Menschenrechte liegt damit die angebliche Bedrohung durch die präkommunistische Vergangenheit Chinas.

Autoritäre Regime weisen immer gerne auf solche angeblichen Bedrohungen hin, um ihre eigene Machtposition zu schützen. Und tatsächlich irren sie ja nicht in der Annahme, daß die Rede von den Rechten der Menschen ihr Überleben bedroht. Sobald ihre Bürger davon überzeugt sind, daß sie ein Recht auf freie Meinungsäußerung haben, werden sie schnell auch das Recht einfordern, ihre Regierung selbst zu wählen. Denn das Recht auf die freie Äußerung der Meinung ist in vieler Hinsicht Grundbedingung aller anderen Rechte. Zwar macht das Recht auf Meinungsfreiheit theoretisch noch keine Demokratie – in der Praxis jedoch führt es in Windeseile genau dorthin. Man sollte hellhörig werden, wenn China behauptet, daß das Gerede von Rechten im Widerspruch zu seiner Tradition stünde: kultureller Relativismus ist der letzte Strohhalm aller autoritären Regime. Die Regierung mag wohl behaupten, daß die Tausende chinesischer Aktivisten, die zur Verteidigung der Menschenrechte das Risiko von Gefangenschaft und Tod auf sich nehmen, im Banne irgendwelcher westlich-individualistischer Phantasien seien. Wahrscheinlicher ist hingegen, daß sie vielmehr ihre Würde und Autonomie verteidigen – mithin eine längst universal gewordene Idee.

Natürlich ist China nicht der einzige starke Gegner einer globalen Menschenrechtskultur. Während ein Teil des Islam seinen Frieden gemacht hat mit den Menschenrechten – und sogar argumentiert, daß die Begrifflichkeit der Erklärung der Menschenrechte schon vor Jahrhunderten in diversen Dokumenten islamischer Weisheit auftauchen –, hat es doch auch immer schon eine Strömung im Islam gegeben, die sich in Opposition zur säkular- individualistischen Gewichtung des Menschenrechtsdiskurses gesehen hat.

Diese Kritik hat sich von Anfang an artikuliert. In der Debatte über die Erklärung der Menschenrechte führte Saudi-Arabien 1948 die Opposition islamischer Nationen an, die sich besonders gegen Artikel 16 (Gleichbehandlung der Partner im Eherecht) und Artikel 18 (Recht auf religiöse Selbstbestimmung) richtete. Zwar stimmten Länder mit großen muslimischen Bevölkerungsanteilen wie Syrien, die Türkei und Pakistan am Ende mit der Mehrheit. Saudi-Arabien jedoch enthielt sich und markierte damit die Position zukünftigen islamischen Widerstands gegen den Universalismus der Erklärung der Menschenrechte.

In den fünfziger Jahren gehörte – ähnlich wie die Gründung ihrer eigenen Fluggesellschaften – die Unterschrift unter die Erklärung der Menschenrechte für die meisten neuen Staaten zum Modernisierungsprojekt ihrer Länder. Als es mit dem Aufbau unabhängiger Staatsgebilde und der Modernisierung ihrer Gesellschaften jedoch schwieriger wurde, begann ein Backlash gegen die individualistische Tendenz des Menschenrechtsdiskurses. Die islamische Revolution im Iran 1979 bot sich als neuer Fokus und politische Führungskraft dieser Revolte an. Mit dem Zusammentreffen der beiden Rechtsauffassungen – des islamischen Gesetzes und der Menschenrechte – hatte in den achtziger und neunziger Jahren jedoch durchaus ein Hybridisierungsprozeß begonnen. In Afghanistan beispielsweise benutzten Frauen die Sprache des internationalen Menschenrechts, um für ihr Recht auf Bildung und Gesundheit zu streiten, während sie gleichzeitig auf ihre Identifikation als gläubige Musliminnen zu Hause bestanden. Sich auf die Menschenrechte zu berufen bedeutet heute nicht mehr, das gesamte Projekt der Moderne – einschließlich Säkularität, westlicher Kleidung, sexueller Sitten und fortschrittlicher Technologien – zu übernehmen. Hybridisierung erlaubt komplexe Formen der Akzeptanz, die sich zwischen unhinterfragbarer Individualisierungstendenz westlicher Moralität und eines mehr auf Gemeinschaft und Familie ausgerichteten Impulses traditioneller Gesellschaften bewegen. Diese Durchdringung traditioneller Gesellschaften mit der Sprache der Rechte als eine Form des Imperialismus zu bezeichnen, geht an der entscheidenden Tatsache vorbei – daß nämlich die Rede von Rechten vollkommen indigen geworden ist. Das Universale hat sich mit dem Regionalen verbunden und sich auf einen komplexen Dialog zwischen Modernität und Tradition eingelassen.

Bereits 1948 war den europäischen Ländern bewußt, daß es mit ihrer kolonialen Verfügungsgewalt über die Welt vorbei war. Und tatsächlich wurde die Deklaration der Menschenrechte nicht von anglo-amerikanischen oder französischen Rechtetraditionen bestimmt. Vielmehr bemühte man sich sehr ernsthaft, auch nichtwestliche Rechts- und Philosophietraditionen einzubeziehen. Die weltweite Bedeutung der Erklärung der Menschenrechte wäre in den letzten fünfzig Jahren nicht zustande gekommen, wenn die Rede von universalen Rechten als Hegemonie eines europäischen Diskurses hätte verstanden werden können. In den letzten fünfzig Jahren ist die Sprache der Menschenrechte vielmehr zu einer Umgangssprache geworden, in der individuelle Opfer traditioneller Gesellschaften sich gegen die Ansprüche des Kollektivs zur Wehr setzten. So wurde aus der Legitimität der Menschenrechte ihre konkrete Möglichkeit, auch innerhalb regionaler Kulturen als alltägliche, moralische Grundlage für die Forderung nach Freiheit zu dienen.

Fünfzig Jahre nach der universalen Erklärung der Menschenrechte kann ihre Geschichte somit als Fortschrittsgeschichte geschrieben werden. Das Resultat, die globale Ratifizierung der Menschenrechtsnormen, die Schaffung eines internationalen Netzwerks von Aktivisten, die Vermischung menschenrechtlicher Normen mit traditionellen Werten und schließlich die Existenz einer historischen Höchstzahl demokratisch gewählter Regierungen, die sich zumindest nominell auf die Beachtung der Menschenrechte verpflichtet haben, kann sich sehen lassen.

Dieselbe Geschichte könnte jedoch auch pessimistischer verstanden werden. Zyniker könnten darauf hinweisen, daß in der Zeit zwischen 1945 und 1946 lediglich ein Brevier des Gewissens erstellt worden sei, über dessen Bestimmungen die meisten Regierungen sich von Anfang an beständig hinweggesetzt haben. Aus dieser Sicht der letzten fünfzig Jahre sind die sogenannten Rückschläge, die von Aktivisten beklagt werden, durchaus keine Rückschläge, sondern weltweit das normale Verhalten in bezug auf die Rechte der Menschen. Geschichte ist demnach eben doch nicht die Geschichte des moralischen Fortschritts – und genauer besehen geht es überhaupt in keine bestimmte Richtung, oder jedenfalls nicht nur in eine. Menschenrechtsarbeit ist aus diesem Blickwinkel eher der permanente Kampf gegen eine allseits drohende Dunkelheit und nicht etwa der lange Marsch in eine bessere Zukunft.

An jedem einzelnen Punkt kann man sich für die eine oder andere Sichtweise entscheiden: ja, es gibt Internationale Tribunale in Den Haag und Arusha; nein, sie haben es nicht geschafft, die Hauptschuldigen an Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Anklage zu stellen oder den Kreis der Straflosigkeit zu brechen, der sowohl das ehemalige Jugoslawien wie auch Ruanda im Bann ihrer völkermörderischen Vergangenheit festhält. Ja, es gibt mehr expliziten Schutz ihrer Menschenrechte für Frauen und Kinder als je zuvor; nein, leider hat das Mißbrauch und Mißhandlung nicht stoppen können. Tatsache ist, daß Menschenrechtsaktivisten unersättlich sein müssen: je mehr man erreicht, desto mehr bleibt zu tun. Neue Bestimmungen und Kampagnen machen Mißbräuche sichtbar, die zuvor undefiniert, versteckt oder unbekannt waren. Wenn das Maximum der Erwartung erfüllt ist, wird sofort sichtbar, das dahinter noch mehr liegt.

Gibt es überhaupt Ergebnisse oder ist alles nur eine Sisyphusarbeit? Festzuhalten bleibt mindestens, daß die Sprache der Menschenrechte das Individuum legitimiert hat und jede Form seines Protests gegen Ungerechtigkeit beglaubigt, ihm also einen Status zugeschrieben und zugesichert hat. Die Sprache der Rechte war nicht nur zentral für den Schutz des modernen Individuums, sondern bereits für seine Herausbildung. Es gibt viele Arten – westliche und nichtwestliche, säkulare und religiöse – der Herausbildung von Individuen. Der Wunsch, ein erkennbares Individuum nach eigener Fasson zu sein, ist dagegen universal. In dem Maße, wie die Menschenrechte diesen Wunsch legitimiert und gestützt haben, haben sie dem Bedürfnis von Milliarden Menschen tatsächlich Ausdruck verliehen.

Wir können nicht wissen, ob die Rolle, die der Menschenrechtsdiskurs in der Herstellung moderner Individualität gespielt hat, letztendlich eine gute Sache war oder nicht. Die Geschichte der Menschenrechte nach dem Holocaust zeigt, daß die vielen Kampagnen für Menschenrechte ohne den optimistischen Fortschrittsglauben beispielsweise der Viktorianer auskommen müssen. Wir kennen das Ende dieser Geschichte nicht, wissen nicht, ob der Begriff der Menschenrechte bleiben wird oder ob wir eines Tages auf ihn zurückblicken werden mit einem ähnlichen Gefühl wie auf den vergessenen Vertrag für die Rechte der Minderheiten aus der Zeit des Völkerbunds: ein Denkmal unserer Illusion.

Immerhin kann keiner behaupten, daß die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus einem Bedürfnis entstanden sei, einander ein hübsches Märchen vom Menschen zu erzählen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war von Menschenrechten die Rede, nicht weil man versuchen wollte, die Realität menschlicher Aggression zu negieren. Vielmehr entstand die Sprache aus dem Bewußtsein des Blicks eines Dr. Pannwitz – und in seinem Blick sahen wir, wer wir sind. In diesem Sinne war die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gerade kein Dokument des Vertrauens in uns selbst, sondern vielmehr eines der Angst. Und so paradox es klingt: Wir sind klüger, wenn wir uns mißtrauen und nicht allzu hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.

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