: Avantgarde gegen Zeitgeist
■ Gewalt? Vandalismus? Gesamtschule? Eltern, Schüler und Lehrer an Bremens Freier Waldorfschule fühlen sich in der bildungspolitischen Debatte ein bißchen als Vorreiter
Wenn klassenraumstreichende Eltern auf Zeitungsseiten gefeiert werden, und wenn Schulautonomie und Projektunterricht als große Ziele der Schulpolitik verkauft werden, wundern sich Barbara Kreuzer und ihre Kollegen bisweilen: All das ist für die Kunstlehrerin an der Freien Waldorfschule Bremen völlig normal.
In der aktuellen bildungspolitischen Debatte fühlen sich die Waldorf-Leute darum ein bißchen als „Avantgarde“, sagt der Englisch-Lehrer Geoff Hunter. Dabei ist der ganz große Run auf die Schule an der Touler Straße in Schwachhausen abgeflaut, obwohl immer noch Interessenten abgewiesen werden müssen. „Der Zeitgeist“ spreche eben eher für konservative Privatschulen, mutmaßen die Lehrkräfte,
Zwar wechseln regelmäßig Schüler auf die staatlichen Schulen, aber die meisten schätzen den ganzheitlichen Ansatz der Waldorf-Pädagogik. Der wird in den sogenannten Epochen, regelmäßigen Projektphasen, deutlich: In der Hausbauepoche zeichnen Drittklässler zuerst Mauern ab, sprechen mit einem echten Maurer, stellen Steine selber her, bauen ein Modellhaus auf dem Schulhof und mauern schließlich ein Becken für den Gartenbauunterricht.
Elftklässlerin Marieke Bar kann nur mit den Achseln zucken, wenn Freunde von der „Staatsschule“ sie fragen, was denn Waldorf-Lehrer bei Schlägereien unter Schülern tun: „Sowas ist hier seit drei Jahren nicht vorgekommen“, sagt die 17jährige. Auch Vandalismus ist in dem in lichtem Gelb gehaltenen, nach anthroposophischen Grundsätzen gebauten Schulhaus kein Thema: „Das ist doch unsere Schule“, sagt Sönke Timm (17). Die Identifikation ist Programm und wird durch Rituale gefördert. So begrüßt täglich morgens ein Lehrer die 450 Schüler per Handschlag an der Schultür. Erstklässler werden an ihrem ersten Tag von einem Paten aus der neunten Klasse mit einem Blumenstrauß beschenkt und unter die Fittiche genommen.
Zwar lehnen die Anthroposophen bestimmte Zeiterscheinungen ab – Walkmen und Messer werden eingezogen, Computerunterricht beginnt erst in Klasse 10. Aber Revolte von Halbwüchsigen wird toleriert, Sönke Timms einst grüne Haare waren kein Problem. „Es ist die Kunst des Lehrens, den Jugendlichen als Lehrer eine Reibungsfläche zu bieten“, sagt Englischlehrer Hunter. Die Schüler haben die Chance, selber Dinge zu verändern, sagt Sönke. So hätten die Älteren über die Schüler-Lehrer-Konferenz durchgesetzt, daß in höheren Klassen auch Politik unterrichtet wird. Das Geld dafür haben sie selbst bei einer Stiftung besorgt.
„Wir sind hier eine wahre Gesamtschule“, sagt Eberhard Muras, der zwei Söhne auf der Schule hat. Denn die Kinder kommen in die erste Klasse (beginnen gleich mit zwei Fremdsprachen) und bleiben bis zur 12 bzw. zum Abitur zusammen. „Es gibt in jeder Klasse Hauptschüler“, sagt Lehrerin Kreuzer. Überhaupt sei entgegen gängiger Vorurteile der Leistungsgedanke an der Waldorfschule durchaus lebendig. Projektergebnisse würden regelmäßig öffentlich vorgestellt. „Die Schüler müssen ein deutliches Bild von ihrer Leistung haben“, sagt Barbara Kreuzer, „die meisten wissen, wo sie stehen“. Zwei Drittel eines Jahrgangs machen Abitur, und zwar in etwa so gut wie in normalen Gymnasien in Schwachhausen. Joachim Fahrun
Die Waldorfschule lädt am Samstag ab 14.30 Uhr in die Touler Straße 3 zum Tag der offenen Tür.
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