Kicken auf der Baustelle

Würde das Olympiastadion zur multifunktionalen Arena umgebaut, droht Hertha BSC ein Leben auf der Baustelle. Denn in der Stadt gibt es keine Stadionalternativen  ■ Von Jürgen Schulz

Wenn Berlin Pläne hat, ist Vorsicht angesagt. Ob Olympia 2000, Kampfhunde, Zweitwohnungssteuer oder die Einweihung der Stadtbahn – an der Spree klappt meistens nur die Tür. So fiel auch das Echo auf den Beschluß, das Olympiastadion für 660 Millionen Mark zur multifunktionalen Arena umzubauen, verdächtig verhalten aus. Manfred von Richthofen, Präsident des Landessportbundes, schien schon zufrieden mit der bloßen Tatsache, daß überhaupt eine Entscheidung in Aussicht steht. Inhaltlich aber feuerte der Enkel des „Roten Barons“ sogleich eine Breitseite gegen die Planer ab. „Es bleibt die Frage, was wird aus Hertha BSC?“

In der Tat droht dem Bundesligisten eine ungewisse Zukunft. Weil dem sportlichen Aushängeschild der Stadt ein reines Fußballstadion mit einem Fassungsvermögen von 80.000 Plätze verwehrt wurde, droht den Kickern nun ein ungewisses Leben auf einer Baustelle. „Wir befürchten finanzielle Verluste“, argwöhnt Hertha-Präsident Manfred Zermaitat. Aus gutem Grund: Mit Beginn der Bauarbeiten wären Teile der Zuschauerränge gesperrt – und Hertha, das in der abgelaufenen Saison pro Heimspiel 52.000 von möglichen 76.000 Tickets verkaufte, müßte im Etat wohl oder übel den Rotstift ansetzen.

Denn alternative Spielorte gibt es nicht in Berlin. Das zweitgrößte benutzbare Stadion nach dem alten Nazi-Oval ist der Jahnsportpark in Prenzlauer Berg mit einem relativ bescheidenen Fassungsvermögen von 20.000 Plätzen – zu klein für einen aufstrebenden Verein wie Hertha.

Nun rächen sich die Sünden der Vergangenheit. Beispiel Poststadion: Das in den zwanziger Jahren errichtete Schmuckkästchen für 50.000 Menschen verkam seitdem zu einem Öko-Dschungel. Einst boxte an der Lehrter Straße Max Schmeling Open air, Adolf Hitler sah bei Olympia 1936 sein einziges Fußballspiel, aber nach dem 0:2 seiner „Herrenmenschen“ gegen Nobody Norwegen hatte der „Führer“ vom runden Leder die Nase voll und verließ vorzeitig den Ort der Niederlage.

Ende der 70er Jahre wurden die ersten Entwürfe zur Renovierung der zerfallenen Anlage vorgelegt, doch am Stil der „Neuen Sachlichkeit“, in dem Georg Demmler das einzigartige Ensemble von Breiten- und Spitzensport errichtete, schien niemand gelegen zu sein. Jeder kochte sein eigenes Süppchen, am heftigsten stritten sich die organisierten Fußballer (die einen exklusiven „Löwenkäfig“ ohne Tartanbahn verlangten) mit den Leichtathleten, die sich ausgeschlossen fühlten.

Der Dauerzwist ruinierte das Stadion. An der Lehrter Straße holte sich die Natur zurück, was ihr einst genommen wurde – übermannshohe Pflanzen wuchsen auf den Zuschauertraversen, Maulwürfe untergruben das Gelände in „Berlins schönstem Naturschutzgebiet“, wie der Geschäftsführer des Fußball-Verbandes, Wolfgang Levin, scherzte. Als einzige Behörde schritt die Baupolizei zur Tat und beschnitt sukzessive das Fassungsvermögen der Postruine.

Als die Mauer fiel, entdeckten Sport- und Baupolitiker den Jahnsportpark in Prenzlauer Berg als Lieblingsobjekt, und die kühnen Pläne für eine Sanierung in Tiergarten wurden fallengelassen. Mit schöner Regelmäßigkeit funkten zwar Lokalpolitiker Signale zur Rettung der Postarena. So versprach beispielweise Sportstadtrat Michael Urban (CDU) im Frühjahr 1993 ein „kleines, wettkampfgerechtes Olympiastadion“, aber letztlich wurde das Ausmaß des Vorhabens gewaltig nach unten korrigiert, indem das Hauptspielfeld zu einem mickrigen Sportplatz für 1.500 Zuschauer zurückgebaut werden sollte.

Doch Haushaltsperren und Kompetenzstreitigkeiten zwischen Land und Bezirk lähmten das Projekt. Mittlerweile hat der genervte Baustadtrat Horst Porath (SPD) seinen Untergebenen einen Maulkorb in Sachen Poststadion umgehängt. Wie zu vernehmen war, interessiert sich die Sportgruppe Deutscher Bundestag mit ihren 600 Mitgliedern für das Anwesen zwecks außerparlamentarischer Leibesertüchtigung. Zumindest die Grünen dürften an der naturbelassenen Kulisse ihre Freude haben.

In blamabler Verfassung präsentiert sich auch das Stadion Wilmersdorf. Wo sich nach 1945 bis zu 30.000 Sportbegeisterte drängelten, um die ruhmreichen „Störche“ des BSV 92 kicken zu sehen, wuchert heute dichtes Unkraut. Mit dem Traditionsklub, der längst in der Bedeutungslosigkeit tiefer Amateurregionen versunken ist, geriet auch dessen Sportstätte in Vergessenheit. „Das Bezirksamt läßt das Stadion verkommen“, beschwerte sich BSV-Präsident Michael Kudritzki immer wieder. Auf der anderen Seite hatte Sportstadtrat Werner Kleist (SPD) die besseren Argumente parat. „Für eine Sanierung des Stadions besteht kein Bedarf.“ Es sei denn, der damals geplante Umbau des Poststadions würde nicht verwirklicht werden. In diesem Fall wollte Kleist 25 Millionen Mark lockermachen, um Wilmersdorf eine schmucke Fußballarena zu bescheren.

Lockere Sprüche aus der Asservatenkammer der Politik. Weder in Tiergarten noch in Wilmersdorf wurden sie in die Tat umgesetzt. Der letzte „Mega-Event“ an der Wildung-Straße fand im Sommer 1993 statt, als sich die Feuerwehrleute zu ihrer 10. Olympiade vor der schaurig-schönen Kulisse versammelten. Wenigstens nutzten die cleveren Wilmersdorfer die Sonnenseite der tristen Immobilie sinnstiftend.

Seit 1984 pflanzt das Bezirksamt auf den verwaisten Traversen Weintrauben an, die im Taunus zur süffigen „Wilmersdorfer Rheingau-Perle“ verarbeitet werden. Bis zu 500 Liter des Preußen-Tropfens werden zu offiziellen Anlässen ausgeschenkt.