: „Das Kriminelle, das ist in mir drin“
Zwei 16jährige brachten am Montag in Hamburg einen Kioskbesitzer um. Seitdem fordern die Politiker vor allem eines: härtere Strafen gegen Jugendliche. Hier erzählt ein Einundzwanzigjähriger von seiner kriminellen Laufbahn ■ Von Birand Bingül
taz: Kannst du dich an deine erste Straftat erinnern?
Thomas: Mein erstes Mal sozusagen?
Genau.
Das erste Mal, da waren wir in so 'nem Altersheim gewesen. Da haben wir, du kennst ja vielleicht diese Asbach-Uralt-Flaschen, diese ganz großen, da gibt's Leute, die sammeln da drin Geld, das sieht man manchmal in Kneipen. Die haben wir geklaut. Wir waren in der Sparkasse mit meinem besten Freund, wollten das Geld umtauschen gegen Scheine. Und auf einmal kommt da die Polizei in die Bank rein. Ich dachte, das gibt's doch gar nicht. Draußen standen vier, fünf Bullenautos – ich sag' mal jetzt Bullenautos, das war früher so meine Art, da hab' ich Bullen gesagt, Bullenschweine. Die haben uns abgeführt. Ich dachte, daß die anderen Leute dachten, wir wollten da die Bank ausrauben.
Wie alt warst du da?
Zwölf, dreizehn. Danach hatte ich ziemlich oft mit der Polizei zu tun, wegen kleinerer Sachen. Ich hab' kein Taschengeld gekriegt, meine Mutter hat alles versoffen.
Hast du nicht gedacht, daß du Ärger bekommst?
Ich hab' das als normal angesehen, was wir da machen. Wo wir gelebt haben, das war 'n Ghetto, da hat jeder so sein Ding gemacht. Ich kannte das nicht anders. Wir haben eingebrochen, Diebstähle, Leute überfallen, Autos aufgebrochen. Das ist, als wenn jemand morgens aufsteht und arbeiten geht, das ist ja auch normal. Wir haben das nicht als falsch angesehen.
Und dann hast du immer weiter gemacht?
Dann hab' ich den Größenwahn gekriegt. Wir waren jeden Tag unterwegs. Das wurde schon zur Sucht. Ich weiß nicht, was mit uns los war. Am Anfang, wir haben noch voll geguckt, ob keiner guckt. Später sind wir zum Polizeipräsidium gegangen und haben Polizeiautos aufgebrochen, Zivilautos von denen. So was muß sich ein normaler Mensch mal vorstellen!
Um den besonderen Kick zu haben?
Ja. Wir haben dann auch so Wetten gemacht, wer den Wagen am schnellsten aufkriegt. Wir haben Leute überfallen, Waffenhandel. Damit haben wir am Tag mehrere hundert Mark gemacht.
Du hattest viel Geld, du konntest tun, was du willst. Wie hast du dich da gefühlt?
Ich hab' Geschäfte gemacht. Ich hab' Sachen verkauft. Ich hab' mich wie so 'n Geschäftsmann gefühlt, nur daß es eben illegal ist.
Wie warst du als Geschäftsmann ausgestattet?
Ich hatte mit 16 'n Handy gehabt – ich hab' jetzt kein Handy, ist mir viel zu teuer. Ich hatte immer 'ne Waffe dabei, Gaspistole, scharfe Knarre hab' ich eigentlich nicht mitgenommen.
Warum hast du das in Kauf genommen? Was war so gut am kriminellen Leben?
Man war so frei, man konnte sich Klamotten kaufen, ich hatte Geld, das war cool. Das war meine Zeit so, viele Freunde, kriminelle Freunde, die ich jetzt nicht mehr hab'. Das waren von klein auf richtige Freunde, mit denen hab' ich alles gemacht. Wir haben uns die Pizza geteilt, die Cola. Auf die konnte ich mich verlassen.
Ist das der Grund, warum du immer weiter gemacht hast?
Warum hab ich das gemacht? Es gibt einen Film, das ist einer meiner Lieblingsfilme, der heißt „Scarface“. Al Pacino spielt da mit. Das hat mich gereizt, wie er in dem Film so war.
Das war dein Vorbild?
Ich war schon vorher so, als ich kleiner war. Dieser Film hat mich aber auch sehr beeindruckt, ganz ehrlich. Und dieses Gruppengefühl. Man hat Geld. Man kann jede Woche ausgehen.
Was war das für ein Gefühl?
Ein Gefühl, stark zu sein. Ich habe Leute geschlagen, die hatten mir gar nichts getan. Ein Gefühl von Macht. Freiheit. Andere Menschen beherrschen zu können. Man ist jemand.
Da warst du 15, 16 Jahre alt. Wie ging es weiter?
Die haben mich zu oft erwischt. Dann hatte ich einen Gerichtstermin nach dem anderen. Dann haben sie mir vier-, fünfmal 'ne Verwarnung gegeben, und irgendwann hab' ich zweieinhalb Jahre bekommen. Wegen zwölf Straftaten, Diebstahl, Raubüberfall, Körperverletzung, schwere Körperverletzung und so. Aber nichts mit Drogen, damit hatte ich nichts zu tun. Ich hab' das gar nicht ernst genommen. Ich hab' darüber gelacht.
Was haben eigentlich deine Eltern zu deiner „Karriere“ gesagt?
Meine Mutter, die hat mich nicht richtig geliebt. Mein Vater... Ich hatte eigentlich niemanden so in meiner Familie, zu dem ich Vertrauen haben konnte, mit dem ich reden konnte. Die wußten zwar, was ich gemacht habe, aber die haben das auch gebilligt.
Die haben nichts gesagt?
Ich glaub', für die war das auch irgendwie so normal. Am Anfang haben sie schon noch durchgegriffen...
Das hat dich nicht abgehalten?
Nee, ich hab' gemacht, was ich wollte.
Und dann der Jugendknast.
Das war 'ne echt schwere Zeit für mich. Es herrscht da 'ne Hierarchie, Faustrecht, gerade im geschlossenen Vollzug. Da mußt du dich durchboxen. Und man hat alle zwei Wochen eine Stunde Besuch. Das ist sehr wenig.
Was war für dich am schwierigsten in dieser Phase?
Das Schwierigste ist, wenn man abends alleine in seiner Acht-Quadratmeter-Zelle ist – die Gedanken. Die Gedanken sind frei, die sind frei, die kann einem keiner nehmen. Keiner! Die Gedanken kann man nicht hinter Gitter schicken. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Man denkt und denkt, man macht sich den Kopf kaputt. Man ist einfach alleine, nur allein.
Einsamkeit?
Einsamkeit, ja. Das ist das Schlimmste.
Was hattest du für Gedanken?
Ich hab' an Suizid gedacht – wie die meisten anderen. Man hält das irgendwann nicht mehr aus. Das ist immer der gleiche Tagesablauf, alles Routine. Man hat Angst. Ich dachte, ich komme nie wieder raus.
Hast du in dieser Zeit etwas gelernt?
Nein, gelernt hab' ich nichts. Man kann nur irgendwann selber auf den Trichter kommen, darüber nachzudenken: Was hast du überhaupt gemacht? Warum hast du das gemacht? Im Knast hab' ich darüber nicht nachgedacht. Im Knast hab' ich mich nur darauf konzentriert, wie der Tagesablauf ist, meine Geschäfte... mit Drogen. Ohne Handeln geht da nichts.
Das heißt, du hast gelernt, über dich selbst nachzudenken?
Erst als ich da raus war, hab' ich einen klaren Gedanken fassen können. Dann hab' ich erst mal versucht, alles mögliche zu tun, um wider normal zu leben, seit ich draußen bin und die Bewährung hab'. Ich guck' jetzt zurück auf die Zeit, die früher war, und ich denk': Das darf nicht wahr sein, was ich gemacht hab'. Das kann ich selber gar nicht begreifen. Ich will so was nie mehr tun.
Aber da hat sich ja grundlegend etwas verändert...
Der Knast hat mich nicht abgeschreckt. Ich hab' mein Gewissen gefunden. Ich hatte früher gar keins. Oder ich hatte eins, aber das war überdeckt.
Aber das fällt ja nicht vom Himmel!?
Irgendwann hat's bei mir klick gemacht, seitdem ich draußen bin. Ich muß ein anderes Leben beginnen. Ich muß aus der ganzen Scheiße raus. Ich muß das alles hinter mir lassen und versuchen, 'n normales Leben zu führen, 'ne eigene Wohnung zu finden, Schulabschlüsse nachzumachen. Meine Freundin, die hat schon mehr getan, als man überhaupt verlangen kann...
Hat sie mehr für dich getan als deine Eltern?
Ja. Ich bin auch froh, daß ich meine Schwester hab' und meinen Schwager und meinen Neffen. Und meine Freundin. Das ist jetzt meine Familie.
Bist du stolz auf das, was du für dich geschafft hast?
Ich bin stolz darauf, daß ich ganz von alleine alles selber in die Hand genommen hab'. Jetzt kann ich mich selber verwirklichen. Ohne Gruppenzwang, ohne Straftaten.
Wenn du jetzt zurückblickst auf die vergangenen sieben, acht Jahre, verstehst du dich dann eher als Täter oder als Opfer?
Beides. Ich bin Täter und Opfer zugleich. Ich hab' Leuten Leid zugefügt, mir wurde auch Leid zugefügt. Ich wurde so aggressiv, weil ich nur so was erfahren hab'. Mein Vater hat mich geschlagen. Du mußt dir vorstellen, wie das ist. Du kommst zu spät nach Hause oder hast 'ne schlechte Note. Dein Vater haut dich mit dem Ledergürtel, und dann auch noch mit der Schnalle, mit der Eisenschnalle. Jahrelang hat er mich geschlagen, seit er arbeitslos geworden war. Da war ich sechs. Irgendwann, da habe ich mich wieder in meinem Zimmer versteckt, wie immer, weil ich wußte, es gibt wieder Schläge. Ich hab' die Tür zugehalten, und er kam trotzdem rein. Das war mir zuviel.
Du wolltest dich endlich wehren?
Ich hab' ihm das Messer in den Arm reingehauen. Als er am nächsten Tag aus dem Krankenhaus kam, sagte er: „Ich hätte nicht gedacht, daß du dich mal wehrst. Ich weiß aber jetzt, daß ich dich nicht mehr schlagen kann.“ Und seit dem Tag sind wir die besten Kumpels, keine Vater-Sohn-Beziehung mehr, sondern wie Kumpels.
Was ist jetzt, in deinem „zweiten Leben“, deine Perspektive?
Ich wünsche mir, daß ich nie wieder rückfällig werde. Das ist mein Traum. Aber das hört sich jetzt alles so an, als wenn ich das beschönigen wollte, daß ich jetzt ein korrekter Junge bin. Aber im tiefsten Innern – man ist ja geprägt worden, von klein auf – hat man immer noch den Drang, wieder kriminell zu werden.
Das spürst du?
Manchmal kommt das hoch, aber ich sag' mir: Nein, Thomas, das kannst du nicht machen.
Du kämpfst dagegen an, rückfällig zu werden?
Ja, die ganze Zeit schon. Das Schönste, was es gibt, ist, ein ganz normales Leben zu führen. Das war früher schon immer mein Traum, aber wenn du so kriminell bist... Die kriminelle Seite ist aber auch nicht schlecht. Ganz ehrlich, die kriminelle Seite ist echt nicht schlecht. Aber so konnte das nicht mehr weitergehen.
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