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Mikadostab im Walfischbauch

■ Die Kunst der Etüde: „Compagnie Les Passageurs“ zeigt neues Stück namens „micado instinct“

Eine blühende Phantasie haben die. „Ich“, sagt der Tänzer am Ende einer kurzen, kindlichen, abenteuerlichen und wie die Jonas-Legende schließlich im Bauch eines Fisches spielenden Geschichte, „ich mutiere zu einer Zelle der Dickdarmwand und habe unendlich viel Zeit, mir mein Leben neu auszudenken.“ Die „unendliche Zeit“ dauert diesmal rund 70 Minuten, und die erzählerisch phantasierte Mutation bleibt nicht die einzige. Gitta Barthel und ihre „Compagnie Les Passageurs“ haben sich wieder aufgemacht ins Reich der Fischbäuche, Rollenspiele, Lebensentwürfe und sind mit einem neuen Stück zurückgekommen. Es heißt „micado instinct“ und wurde als Mixtur aus Tanz, Musik und Sprechtheater jetzt in der Kulturwerkstatt Westend uraufgeführt.

Kein Anfang, kein richtiges Ende. Noch als das Publikum um die Plätze mit der besten Sicht konkurriert, beginnt die Compagnie schon. Der „Jonas“ (Michael Henn) und die drei anderen Tänzerinnen (Gitta Barthel, Anne-Katrin Ortmann und Birgit Freitag) durchmessen den Raum, knicken ein, kreiseln um sich selbst. Dazu serviert Reinhart Hammerschmidt am Kontrabaß Musik und Geräusche und beweist, daß man auf diesem Instrument nicht nur quietschen und schrummeln, sondern auch knurzen kann. Wo die Passageurs am Werke sind, ist eben vieles möglich und noch mehr erlaubt.

Seit Gitta Barthel das Tanztheaterensemble von Susanne Linke und Urs Dietrich am Bremer Theater in Richtung freie Szene verlassen hat, verknüpft sie tänzerisches Ausbilden, Improvisation und spartenübergreifenden Einfallsreichtum mit einem choreographischen Anspruch. „micado instinct“ ist nach „da zwischen“ und „Bal Musette“ das dritte Gruppenstück. Doch im Gegensatz zur 1997er-Produktion „Bal Musette“, die in unterschiedliche Niveaus zerklüftet war, scheint sich jetzt ein Ensemble formiert zu haben, auch wenn die im besten Sinn etüdenhaften Elemente des Stückes nicht durch einen roten Faden verbunden sind.

Zum wunderbar experimentierfreudigen Baßspiel oder – eher – zur Baßpercussion Reinhart Hammerschmidts tanzt das Quartett Folgen von Soli, Duo- und Trioszenen, denen die Herkunft aus der Improvisation fast durchgehend anzusehen ist. Die „Passageurs“ erweitern dieses Spektrum aus Tanz und Musik durch mal lyrische, mal absurde Sprachhäppchen und Miniaturerzählungen sowie durch Abschnitte für Entfaltung solistischer Talente.

So dämmt der Beleuchter Jörg Hartenstein das Licht irgendwann im Lauf der „unendlichen Zeit“ auf drei Spots für Michael Henn herunter. Wie aus besten Roncalli-Zeiten entsprungen, zeigt der erst mit einer, dann mit drei und schließlich mit sechs Glaskugeln eine Fließjonglage. Tanz ist – unter anderem – ein Versuch, die Schwerkraft zu überwinden. Der sitzende und fingerfertige Henn überwindet sie auf so poetische wie sehenswerte Weise.

Aber kommt diese Jonglage nicht etwas unvermittelt? Egal. Tanz ist – wenigstens hier – auch der Versuch, individuelles Können öffentlich auszustellen. Neben der selbst in kleinsten mimischen Äußerungen eindrucksvoll bühnenpräsenten Gitta Barthel ist es diesmal vor allem Birgit Freitag, der das gelingt. In einem komisch-virtuosen Solo entzaubert sie die fetischhafte Gleichsetzung des weiblichen Körpers mit dem Corpus eines Cellos oder eines Kontrabasses. Birgit Freitag windet und verrenkt sich, wagt die unmögliche Imitation und hat im Mißlingen den schönsten Auftritt des Abends.

Was vergessen? Ach ja, das Mikado hat in Form eines großen Spiels eine Requisitenrolle. Die Stäbe mutieren aber nicht. Dafür blüht in „micado instinct“ die Phantasie. Christoph Köster

Weitere Aufführungen: 9. Juli, Bürgerhaus Weserterrassen; 14. Juli, Institut Français; 15. Juli, Weserarkaden; 17. Juli, Kulturbahnhof Vegesack. Beginn jeweils um 20.30 Uhr.

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