■ Kloppt den häßlichen Firnis der häßlichen Welt zum Teufel: Schönes, rätselhaftes Handwerk
Um 21.17 Uhr kollabierte das Kabel. Südwest 3 war über terrestrische Frequenzen noch unscharf zu empfangen, der Programmrest entschwand in schwarze Nacht. Ich würde der aktuell größten Plunze Auftritt zu „Börmigheim“ (H. Faßbender) verpassen.
Handwerk hat was Gutes. Es nimmt uns Entscheidungen ab und schützt uns vor Torheiten. Seine Destruktionskräfte sind immens. Es kappt die Verbindungskabel zur Außenwelt, deren Zumutungen wir nicht mehr länger ertragen müssen. Handwerk demoliert und ruiniert sämtliche Kommunikationskanäle, wann immer es will, und erlöst uns von unseren Sünden, nimmt uns die Last der eigenen Dummheit von den Schultern, treibt uns unsere Süchte aus. Handwerk ist Wunderwerk.
Woher die Gütigen kommen, die Wohltäter und sanften Aufklärer, wissen wir nicht. Der Hausbesitzer hat sie vermutlich auf Trab gebracht – schwarz bestellte und arbeitende Elektriker und Maler, die seit Wochen das Treppenhaus und anliegende Wohnungen bevölkern. Tagelang legen sie Pausen ein. Wenn sie vor Ort hantieren, ist kein Vorbeikommen. Mit frühabendlichem Rausche versuchen wir uns an todgefährlichen Leiterkonstruktionen und Tonnen voller Wandfarbe vorbeizuzwängen. Heute schlafen wir im Biergarten.
Handwerker verschönern das öde Wochenende. Sie schaben und pulen den Putz bis aufs poröse Mauergestein herunter, verbarrikadieren unsere Türe mit tuckernden Notstromaggregaten. Sie vermitteln uns Müßiggängern den Eindruck, von heideggerisch behauster Betriebsamkeit und sinnvollem Tun tangiert zu werden. Und sie drehen, bevor sie knapp nach neun gehen, die Hauptsicherung raus, damit uns Guildo II. erspart bleibe. Gepriesen seien sie, unsere prima Handwerker!
Segensreich, ja heilsfördernd wirkt das Handwerk. Es verschönert unsere nächste Umwelt, es schlägt und kloppt den häßlichen Firnis der abgenutzten Welt zum Teufel. Nur wie genau, bleibt ein Rätsel. Wir sehen's ja nicht, draußen vor der Tür. Beobachten können wir jedoch, daß unsere zuverlässigen Maler immer mächtige Rollen Tetrapak-Folien herankarren, eine, denken wir, blendend farbabweisende Papier-Kunststoff-Alu-Mischung, und den Ort ihres tadellosen Wirkens feingeistig auskleiden bis ins letzte Fitzelchen einer dem Auge nie auffällig gewordenen Treppenhausecke.
Wie berückend Sorgfalt hier obwaltet! Wie da unsere fußballvereinsfördernde Getränkeverpackungsindustrie (Tetrapaks Emblem ziert die Trikots der Frankfurter Eintracht) wohl nebenher kleines Extrageld verdient! Wie sie womöglich Schmiersummen hinterlegte, Zahlungen veranlaßte an hammerschwingende und pinselschwenkende Schwarzmänner, um Werbung zu lancieren für O- und A-Saft – dort, wo wir tagein, tagaus gehen und stehen, unter unseren bescheidenen Ziegeldächern.
Möglichst lange muß das Tetrapak liegen bleiben, lautet ein stilles Handwerksgesetz. Der Fachmann behauptet, die Pappen seien routinemäßige Fehlandrucke und würden querfeldein durch alle Innungen geschätzt. Bei mir lungert seit April quadratmeterweise die flachgelegte 1,5-Liter-Schachtel Celta semidesnatada – Leche de Galicia aus La Coruña herum (44 kcal per 100 ml), zartgrün, ein Hauch von Frische, staubbedeckt, wundgeschabt, elend und alt.
Warum solch schlimmer Anblick? Ist's eine Finte der Schwälbchenmolkerei? Ein suggestiver Schachzug, der uns rohen Gemütern das Gefühl vermittelt, wir treten spanische Spitzenmilch gerne mit den Füßen? Oder leidet das Verpackungsgewerbe insgeheim an Masochismus und sieht seine Produkte von Herzen geschunden, besudelt, verhunzt, geschändet?
Was für Fragen! Gelöst werden sie nie. Jürgen Roth
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