piwik no script img

Maria, die Hilfreiche in vielen Krisen

Im saarländischen Marpingen glaubt man an eine Erscheinung der Jungfrau Maria und feiert den Jahrestag mit dem Harvard-Professor David Blackbourn, der nicht daran glaubt – aber fast alles weiß über „das deutsche Lourdes“  ■ Von Christian Semler

Der Versammlungssaal des Gasthauses Klos im saarländischen Marpingen quoll über vor Schaulustigen. An der Stirnseite war nicht etwa eine Großleinwand ausgerollt, um den 200 Versammelten ein weiteres masochistisches Schauspiel deutscher Fußballkunst zu bieten. Vielmehr haben sieben distinguierte Herrschaften Platz genommen, Historiker, Politiker, Theologen und der Bürgermeister, um den Jahrestag eines 122 Jahre zurückliegenden Ereignisses zu begehen: der Marienerscheinung vom 3. Juli 1876.

Absoluter Star des Abends ist ein Harvard-Professor mittleren Alters, ein liebenswürdiger, wohltemperierter Gelehrter, an dessen Lippen sie alle hängen, Gläubige wie Ungläubige. Denn David Blackbourn hat ein Buch über ihr Marpingen geschrieben, ein berühmtes sogar, preisgekrönt von der American Historical Association. Es heißt in der deutschen Ausgabe „Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei“. Gemeint ist die Jungfrau Maria, und die Aufforderung, diese Frage zu stellen, erging von einer Mutter an eins der drei Kinder, die die Muttergottes sahen, als sie an jenem 3. Juli im nah gelegenen Härtelwald Heidelbeeren sammelten. So geschah's am nächsten Tag. Maria gab sich als die gesegnete Jungfrau unbefleckter Empfängnis zu erkennen, und für die meisten Einwohner der 1.600-Seelengemeinde Marpingen schien die Stunde des „deutschen Lourdes“ geschlagen zu haben.

Aber die Hoffnung vieler Frommer und mancher Händler in Devotionalien wurde enttäuscht. Nicht etwa durch die preußische Staatsmacht, die – mitten im Kulturkampf Bismarcks – von der bewaffneten Macht bis zu einem aus Berlin herbeigeeilten Undercoveragenten alles aufbot, um der klerikalen Verschwörung Herr zu werden. Die Repression ließ nur den Strom der Pilger anschwellen. Viel schmerzlicher als Kolbenhiebe und Bajonettstiche, als Anklagen und Prozesse (die allesamt mit Freispruch endeten) war die Haltung der Kirche. Gewiß, der Bischofssitz in Trier war nicht besetzt, und viele Geistliche konnten nur im Untergrund arbeiten, weil sie sich Bismarcks antikatholischer Gesetzgebung widersetzten. Aber hätte es nicht wenigstens zu einer ordentlichen kanonischen Untersuchung gereicht, wie sie das Konzil von Trient vorschrieb? Und hätte nicht an deren Ende das ersehnte „Nihil obstat“ [lat. ,es steht nichts entgegen‘, C.S.] stehen können, also die ausdrückliche Erlaubnis der Amtskirche, Maria in Marpingen zu verehren?

Die Marienkapelle am Ort der ersten Erscheinung – in den dreißiger Jahren aus privaten Mitteln Marpinger Bürger errichtet – harrt nach wie vor der kirchlichen Weihe. Keine Einsegnung, keine Messe. Dabei sind in und um die Kapelle die Hinweise auf die Marienerscheinungen dezent gehalten. Inkriminierungswürdig wäre eigentlich nur eine Kerze mit einem Bildnis der Jungfrau, das die umlaufende Inschrift trägt: „Ich bin die Unbefleckt Empfangene“, worunter zu lesen steht: „ULF [Unsere Liebe Frau, C.S.] von Marpingen, 3. Juli 1876“. An der Außenwand sind Votivschildchen angebracht, allesamt jüngeren Datums, auf denen unisono zu lesen steht: „Maria hat geholfen“. Ein Dankbarer hat sich noch zurückhaltender ausgedrückt: „Ich glaube – Maria – hat mir geholfen. Danke E.S., Mai 1994“. Instruktiver ist das Gedicht eines Pfarrers, in dem es heißt: „Nicht Gott läßt seine Welt im Stich / Nein! Umgekehrt verhält es sich / Vergessen ist, der für uns litt, / drumm folgt der Fluch auf Schritt und Tritt!“

Die Anhänger dieser „Tut-Buße-solange-noch-Zeit-ist-Bewegung“, die Fans des Bischofs Dyba, die Aktivisten des „Kapellen-Vereins“, sie sind heute im Gasthaus Klos zahlreich vertreten, verzichten aber artig darauf, sich über die Offenbarung des Johannes und ähnliches zu verbreiten. Ins Gespräch gezogen, geben sie zu bedenken, daß Maria sich über den Zustand der Welt Sorgen machte und macht. Ist es etwa ein Zufall, daß viele Erscheinungen vor dem ersten und zweiten Weltkrieg in Grenzregionen stattfanden, wo kurz darauf der Nationalismus wütete? Und hat nicht 1981 im herzegowinischen Medjugorje die Jungfrau Maria die Menschen durch den Mund unschuldiger Kinder ermahnt, Buße zu tun und umzukehren, bevor es zu spät ist?

Die Frommen konnten der Veranstaltung im Gasthaus Klos beruhigt entgegensehen. Marpingens Gemeinde hatte – nicht repräsentativ – in ihren vier Untergemeinden 300 Fragebögen verteilt, in denen sie fragte: „Glauben Sie persönlich, daß es in Marpingen Marienerscheinungen gegeben hat?“ 194 der Fragebögen sind bis jetzt abgegeben worden. Ergebnis: 112 Ja-, 82 Nein-Stimmen. In der Marpinger Kerngemeinde obsiegten die Ja-Stimmen mit 31 zu 18. Weniger erfolgreich verlief die Befragung in der Untergemeinde Berschweiler. Dort steht es 8 zu 1 für die Erscheinungsverneiner. Kein Wunder, die Ortschaft ist ein protestantisches Einsprengsel. Und im „Dorfkrug“ dieser Ketzergemeinde kann man neben den Tonfiguren von Maria und Josef eine Stoffhexe bewundern, die, mit einer runden Intellektuellenbrille angetan, vergnügt auf ihrem Besenstiel gen Himmel reitet.

Marpingens Bürger sind in den Tagen des Jubiläums vereint im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind. Und der ist nicht unter gottlosen Atheisten zu suchen, sondern sitzt in Trier, beim erzbischöflichen Ordinariat. Darin sind sich alle einig, einschließlich der Parteien SPD wie CDU. Die Forderung an den Bischof lautet: Einsegnung der Marienkapelle, Öffnung der Akten des Ordinariats zu Marpingen, Berücksichtigung der Dokumente, die sich im Besitz von Marpinger Bürgern befinden!

Zum Glück für den Vertreter der Kirche ist den Marpingern nicht bekannt, daß im ostpreußischen Dietrichswalde, heute Gietrzwald, wo sich um die gleiche Zeit ebenfalls nicht anerkannte Marienerscheinungen ereigneten, der nunmehr polnische Klerus ein Einsehen hatte: Der Bischof des Ermlands bestätigte 1977, anläßlich des 100sten Jahrestages, die Erscheinungen. Die Folgen: am Ort ein schmuckes Pilgerhotel und in Rom ein polnischer Papst!

David Blackbourn ist in Marpingen everybody's darling. Selbstironisch fügt sich der Historiker in die Rolle des Promotors. In seinem Buch war es Blackbourn nicht um die Frage gegangen, ob die Marienerscheinungen nur halluziniert waren oder eine von den Erwachsenen hochgepuschte kindliche Erfindung oder gar Ausdruck einer übersinnlichen Realität. Er wollte herausarbeiten, daß die Volksfrömmigkeit Ausdruck der krisenhaften Entwicklung einer sich zersetzenden agrarischen Gesellschaft war. Ihm kam es darauf an, zu zeigen, welche spezifischen sozialpsychologischen Bedingungen die massenhaften Marienerscheinungen im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts hervorbrachten, wie sie allesamt einem blueprint, dem großen Vorbild von Lourdes, folgten. Und er wollte demonstrieren, wie die katholische Kirche einige dieser Erscheinungen nutzte, um die Kontrolle über die Seelen zurückzugewinnen. Aber nicht diese subtile Beweisführung ist es, die man in Marpingen hören will. Schüler der 7. Klasse bringen die entscheidende Frage auf den Punkt: Glaubt Blackbourn selbst an die Erscheinungen oder nicht? Eine ebenso einfache wie raffinierte Frage, betrifft sie doch das Vorverständnis des Forschers, die unerklärten Prämissen seiner Arbeit. Also: Blackbourn glaubt nicht an die Marienerscheinungen, aber bemüht sich darum, ihren Ursprung zu verstehen. Er ist gerecht gegenüber den inbrünstig Glaubenden, den Nöten der Amtskirche, sogar gegenüber Preußen. Und es gefällt ihm in Marpingen.

Dabei hat die heutige Großgemeinde so gut wie nichts mehr zu tun mit dem elenden Nest, von wo aus einst die Bauern zu den Bergwerken des Neunkirchner Reviers pendelten. Heute, nach dem Ende des Saarbergbaus, pendeln die Marpinger nach Saarbrücken oder St. Wendel und bevölkern den Dienstleistungssektor. Die Einwohnerzahl hat sich ebenso vervielfacht wie die Einfamilienhäuser, die heute, edeltannenumrandet, bis an die Marienkapelle heranreichen. In seinem Buch vertritt Blackbourn die Meinung, die satten 60er Jahre hätten dem Marienkult ein sanftes Ende bereitet. Statt des religiösen das Wirtschaftswunder. Zwar gesteht der Gast aus Harvard bereitwillig ein, daß die Geschichtsschreibung wohl den Anfang einer Story kennt, aber nie ihr Ende. Geirrt hat sich der Historiker trotzdem an diesem einen, entscheidenden Punkt.

Noch leben in Marpingen direkte Nachkommen der Familien, aus denen die drei hochberühmten Kinder stammten. Noch wirkt die mündliche Überlieferung, das kulturelle Gedächtnis ist noch nicht an die Stelle des Gedächtnisses der Generationen getreten. „Ich bin mit den Marienerscheinunungen aufgewachsen“, sagt Bürgermeister Laub, „das hat mich geprägt.“ Aber der Glaube hat, von den Aktivisten des Kapellen-Vereins abgesehen, seine Inbrunst verloren, er hat sich „kulturalisiert“. Statt marianischer Aufbruchsbewegung lokale Sinnstiftung. Der Kirchenhistoriker Richard Dewes, heute Innenminister Thüringens und ein Marpinger Kind, sieht es so: „Wir wollen uns mit der Geschichte unserer Region identifizieren. Wir wollen wissen, wie unsere Vorfahren gelebt haben. Und was wir heute tun sollen.“ Der Staat, die Parteien müssen glaubwürdige Politik machen, Religion und Kirche aber sind aufgerufen, Sinn zu stiften. Das ist die neue, die sozialdemokratische Deutung der Marienerscheinung im Härtelwald.

Eine letzte, zündende Idee hat David Blackbourn zu diesem Unternehmen beigesteuert. Die Marpinger Geschichte soll verfilmt werden. Wunschkandidat für die Rolle des Pfarrers Jakob Neureuter, der an die Marienerscheinung glaubte, aber gleichzeitig der verfolgten Amtskirche die Treue halten wollte: Bruno Ganz. St. Bruno, erhöre unser Flehen!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen