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Vom Winde verweht

Der Starkwind hat Spaniens südlichsten Zipfel vom Massentourismus verschont. Surfer lieben den Levante, Flüchtlinge treibt er in den Tod  ■ Von Marc Bielefeld

Die alten Spanier in Tarifa beginnen zu fluchen, wenn Marokko vor ihrer Haustür mal wieder verschwindet. Die Küste Nordafrikas ragt vor Andalusiens südlichster Ecke wie eine Wand aus dem blauen Meer. So nah, daß man rüberrufen möchte. Aber wenn er wiederkommt, der Levante, der starke Ostwind, dann zieht mit ihm ein Dunstschleier vor die gewaltige Kulisse, und Afrika ist nicht mehr zu sehen. Dann wird das Meer weiß, fängt der ganze Ort an zu klappern und heulen selbst die Dorfkirchen. Die Meerenge von Gibraltar gerät zum Windkanal, und die Kopftücher der Marktfrauen werden zu fliegenden Fetzen. Das kann Wochen, manchmal Monate so gehen, und irgendwann spuken den Menschen dann hektische Geister im Kopf rum, schlimmer als bei jedem Alpenföhn.

Tarifa ist die windigste Ecke Europas. Wenn sich ein Azorenhochkeil nach Spanien verlagert, ein Hoch über Mitteleuropa oder ein Tief über Nordwestafrika entsteht, hebt der Levante alles aus den Angeln, was nicht niet- und nagelfest ist. Verschiedene Wetterkonstellationen verursachen den furiosen Fallwind, den die flankierenden Berge an der Straße von Gibraltar düsenartig verstärken. Der Wind hat Tarifa geprägt, denn die Power-Puste der Natur verschont das geschichtsträchtige Fleckchen nur an wenigen Tagen im Jahr.

Das ewige Pfeifen terrorisiert die Menschen. Auch wenn es keine Statistiken belegen, behaupten die Einheimischen, Tarifa habe die höchste Selbstmordrate Spaniens. Der Wind ist hier in den Köpfen, und oft bläst er sogar die hitzigen Diskussionen über die Arbeitslosigkeit von den Theken der Tapas- Bars. Jodido, molesto, pesado levante – für den Wind gibt es mehr Schimpfwörter als für die Politiker in Madrid.

Dabei hat der Wind auch sein Gutes. Denn jeder Touristenschenkel, der sich hier an den Stränden entblößen würde, würde gnadenlos gesandstrahlt. Jedem marbellaverwöhntem Ausflügler würde die Gucci-Kappe vom Kopf wehen, und einem Golfer würden beim Abschlag vermutlich die Bälle wegkullern. Folge: keine Hotels, keine Tourenbusse, keine Bettenburgen, keine Pizzeria-Plantagen, kein Yachtengetümmel, kein Spanien, wie man es sonst von der der Costa Brava bis zur Costa del Sol kennt. Tarifa hat noch jedem größenwahnsinnigen Bauherren den Wind aus den Segeln genommen: Dieser Ort ist schlicht tourismusunfähig.

Auf der Fahrt von Malaga nach Süden, vorbei an Torremolinos und Marbella, ist es zunächst, als führe man durch Betonien. Die Küste ist mit Wohnsilos verrammelt, billige Bars säumen die Straße, und die Augen verirren sich im Dschungel der Reklameschilder, die das Ferienparadies Andalusien verheißen. Doch auf einmal lichtet sich die Küste und gibt den Blick aufs Meer frei, die Landschaft wird weit, und es wachsen wieder mehr Grashalme als Hotels. Am südlichsten Punkt Spaniens, da wo sich Afrika und Europa küssen und die nahen Atlasberge thronen, sind die Pauschalpapagallos ausgeblieben. Windgott sei dank.

Wer schließlich zum Punta Tarifa kommt, traut seinen Augen nicht. Die Berge hier sind übersät mit Windrädern, deren Propeller Tag und Nacht fauchen, getrieben vom nimmermüden Wind. Acht Firmen, eine sogar aus Dänemark, betreiben die Windparks, die Energie für ganz Andalusien liefern. Ab hier regiert der Wind, und er hat dem spanischen Bauwahn eine unsichtbare, aber immer hör- und spürbare Schranke in den Weg gelegt. Und den Menschen schlichtes Spanien bewahrt: Wiesen, Rinder, weiße Steinhäuser und wilde Palmen neben verwehtem Gestrüpp.

Die Tarifeos sind einiges gewohnt, was die spezielle Laune der Natur hier unten anzurichten vermag. Sie zerstört die Saat, bringt Fischer in Seenot und spült tote Schwarzafrikaner an Land. Nicht selten werden Flüchtlinge etwa aus Mali, Sierra Leone oder dem Senegal, die von Marokko aus illegal ins gelobte Europa übersetzen wollen, von Wind und Meer besiegt. Bei neun Beaufort haben kleine Motorboote kaum eine Chance, die 14 Kilometer breite Meerenge unbeschadet zu queren.

Der interkontinentale Kurztrip wird für viele Afrikaner zum mörderischen Unterfangen. Nicht nur wegen des oft sehr plötzlich aufkommenden Sturms. „Ohne Navi- gation ist hier kein Rüberkommen“, sagt Kapitän Rashid, der die hiesigen Gewässer von seinem langjährigen Fährdienst sehr gut kennt. Keine zehn Sekunden läßt der Marrokaner zur See während der Fahrt von Tanger nach Tarifa den flimmernden Radarschirm aus den Augen, denn Tanker und Frachter durchfahren die Meerenge sozusagen Stoßstange an Stoßstange. „Wenn uns so ein Ölgigant rammt, säuft diese Fähre ab wie ein Stein, und bei denen ruckt es nicht mal“, erzählt Rashid. Für kleinere Boote, meint er, sei es bereits gefährlich, auch nur in die Nähe des Kielwassers zu geraten. Die Schrauben der Schiffsriesen erzeugen einen Sog, der Menschen in die Tiefe zieht. Monsieur Rashid steht auf der verdunkelten Brücke und blickt grimmig auf die Geschwindigkeitsanzeige. Strömung und Gegenwind machen die Fähre ganze fünf Knoten langsamer, obwohl die Diesel kämpfen wie die Stiere.

Tagsüber glitzert die Straße von Gibraltar in der Sonne wie eine von der Natur gezogene Barriere zwischen Arm und Reich. Afrika und Europa sind sich hier so nah und doch so fern. Für viele Afrikaner, deren Füße sie von Burkina Faso, Freetown oder sonst einem Ort im militärdiktierten Afrika bis zur marokkanischen Küste getragen haben, ist hier Endstation. Nur ihr Blick reicht hinüber zu den spanischen Bergen, dahin, wo das Reich der Reichen beginnt, die Welt der Waren und die vermeintliche Freiheit des mächtigen Europas. Sie kennen die Warnungen: Noch bevor dich die Tanker oder die Hubschrauber der spanischen Küstenwache kriegen, holt dich der Sturm.

Vom Winde verflucht, pöbeln die einen. Vom selben gesegnet, jubeln andere: die Windsurfer. Vor zwanzig Jahren tauchten die ersten breitschultrigen Funsportler an Tarifas zehn Kilometer langem Strand auf und stierten gierig aufs levantegepeitschte Meer. Hier fanden sie im Überfluß, was sie sonst vergeblich suchten: reichlich Treibstoff für ihre Segel. Seitdem hat das Wasser Balken, und im Sommer tummeln sich heute mehr Windsurfer in Tarifas Bucht als Fliegen auf den Rattenkadavern in der Altstadt. Für die Surfer ist dieser Platz ein gefundenes Fressen Wind ohne Ende und Surfshops ohnegleichen. Ausgerechnet Tarifa ist zur Windsurfhauptstadt Europas geworden.

Barry Pussel, ein australischer Shaper, war einer der ersten, die Tarifas Potential als Surfmekka er- kannten. 1984 eröffnete er hier seine Werkstatt und verkauft seitdem Boards, Segel und Equipment. Nachdem die Surfmagazine über die „Düse“ berichteten, setzte der Bretterboom ein. Windsüchtige aus aller Welt kamen, sahen und wasserten ihre segelbewehrten Plastikplanken. Den Fischern fielen fast die Augen aus den Köpfen. Wenn sie wegen des Sturms lieber im Hafen bleiben und abwarten, flitzten die Windsurfer noch behende durch die Fluten, machten Sprünge, ritten die Wellen ab und jubelten vor Freude.

Die windlüsternen Wassersportler haben Tarifa längst ihren Stempel aufgedrückt: Auf der Markise der Panadera prangt das Logo des Segelmachers Bull Sails, die Boutiquen quellen über vor teurer Surfmode, und durch die Gassen laufen muskulöse Burschen mit sehr hübschen Mädchen im Arm. Auf der Pasado del Ballado, der Hauptstraße, steigt die Materialschlacht: kaum ein Garagentor, hinter dem nicht ein Shaper an einem neuen Board herumhobelt; kaum eine Hauswand, die nicht mit den bunten Stickern der Surfindustrie zugepflastert ist. Über dem Wegweiser zur historischen Burg des Volkshelden Guzman el Bueno leuchtet seit kurzem ein Neonpfeil: „Surfboards Rick 200 metros“. Und gegenüber der Dorfkirche haben die Kids die Sprüche zweier „kultiger“ Surfmarken auf eine Hauswand gesprüht: „No Fear!“ und „No Work Team“. Heilige Jungfrau! Was zum Teufel soll der Wind denn noch anrichten?

Die Älteren sind skeptisch. Daß die Surfer dem Ort Geld und Glück bringen, glauben sie nicht. Sie mißtrauen den Typen mit den schnittigen Sonnenbrillen und den vollgepackten Wohnmobilen. Die hören wilde Musik, hängen tagelang am Strand rum und behaupten, sie rauchten schwarze Afghanen.

Und an den wenigen Tagen, an denen kein Wind ist, warten sie nur darauf, daß er wiederkommt! Barry Pussel und viele der längst selbst übers Wasser gleitenden Jüngeren denken anders. Das Geschäft mit den Surfern schaffe Arbeitsplätze, bringe Geld und erwecke Tarifa aus seinem touristischen Dornröschenschlaf. Der Wind ist Tarifas Schicksal. Den einen bringt er Glück, für die anderen ist er ein Fluch.

Stille. Heute liegt das Mittelmeer wie ein blauer Teppich vor Tarifa. Ruhig und besinnlich, als wolle es zur Meditation aufrufen. Die Köter dösen im Schatten, die Zitronenbäume leuchten in der Sonne, und Marokkos Küste erhebt sich majestätisch aus dem Meer, klar und ungetrübt. Doch in Tarifas Bergen kündigt sich schon wieder Unheil an. Hunderte von Windrädern sind gen Osten ausgerichtet und beginnen langsam, sich zu drehen.

Zwei alte Spanier, Greise, sitzen auf der Parkbank und schimpfen leise vor sich hin. Ihre Hände zittern am Gehstock. „El levante del diablo“, krächzt der eine, der teuflische Ostwind! Und dann schickt der alte Mann eine Pöbeltirade durch seine Zahnlücken, daß es nur so zischt. In seinem Alter weiß man in Tarifa nie so recht, ob man Afrika je wieder sieht.

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