Aus dem Leben einer Wanderbaustelle Von Dietrich zur Nedden
Wie jeden Abend saß ich auf meinem Stammplatz an der Bar der Raststätte Allertal, als sich eine Baustelle auf den Hocker neben mich setzte. Ohne viele Umstände zu machen, begann sie, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Eigentlich und ursprünglich, sagte sie beinahe entschuldigend, habe sie mutterseelenallein an einer Landstraße im Oldenburgischen gelegen. Sie muß ziemlich darunter gelitten haben, denn „um ihrer Einsamkeit zu entfliehen“, faßte sie den Entschluß, in die Fremde zu ziehen.
Sie machte sich auf den Weg und bald von sich reden, so daß sie sogar einen eigenen Namen bekam. Als Wanderbaustelle war sie in weiten Teilen Deutschlands bekannt. Insbesondere nach ihrem Besuch auf der A 1 Münster–Leverkusen zwischen Kreuz Dortmund/Unna und Westhofener Kreuz, als sie dort einen Stau von vierzehn Kilometern Länge verursachte.
Danach kümmerte sie sich auf der A 1 Hamburg Richtung Bremen zwischen Hamburg–Harburg und Maschener Kreuz um einen acht Kilometer langen Stau, war dann auf der A 1 Bremen–Osnabrück zwischen Wildeshausen-West und Cloppenburg für einen zehn Kilometer langen Stau gut und landete nach einem arbeitsreichen Tag auf der A 1 Kölner Ring–Leverkusen–Köln zwischen Köln- Nehl und Köln-Bocklemühl, nachdem sie einen Zwischenstopp auf der A 1 Osnabrück–Bremen zwischen Vechta und Cloppenburg eingelegt hatte.
Am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe war sie der A 1 überdrüssig, und so wandte sie sich auf die A 2 Berlin–Hannover zwischen Kreuz Wolfsburg/Königslutter und Kreuz Nord nach Osten. Danach ging es für einen Stau von zehn Kilometern Länge auf die A 3 Oberhausen Richtung Frankfurt zwischen Kreuz Leverkusen und Hoimar. Weil ich schon mal in der Nähe bin, dachte sich die Wanderbaustelle, kann ich doch gleich noch auf der A 5 Frankfurt Richtung Karlsruhe vorbeischauen, am besten zwischen Heidelberg-Dossenheim und Heidelberg-Schwetzingen. Gesagt, getan. Ebenso erfolgreich war der Besuch auf der A 5 Frankfurt–Kassel zwischen Bad Homburger Kreuz und Friedberg. Der Tag endete dann ziemlich harmonisch auf der A 8 Stuttgart Richtung Karlsruhe zwischen Heimsheim und Pforzheim Ost mit einem sieben Kilometer langen Stau.
Bemerkenswerte Ereignisse der nächsten Wochen waren ein fünfundzwanzig Kilometer langer Stau auf der A 2 Dortmund Richtung Hannover zwischen Bad Eilsen und Lauenau sowie ein sehr stockender Verkehr auf der A 7 Hannover Richtung Hamburg zwischen Westendorf und Fallingbostel. Daß der kleinen Wanderbaustelle Ostdeutschland nicht unbekannt war, beweist ein sieben Kilometer langer Stau auf der A 4 zwischen Weimar und Magdala sowie das Pendant Erfurt Richtung Dresden zwischen Hermsdorf Ost und Gera.
Sie hätte wahrscheinlich endlos so weitererzählen können, aber es wäre dann irgendwann doch immer nur dasselbe gewesen. Das gleiche? Der Barkeeper riß mich aus meinen Gedanken. Das gleiche noch mal? wiederholte er seine Frage. Ich lud meine Nachbarin auf ein Glas ein, und es sollte nicht das letzte an diesem Abend gewesen sein.
