■ Die Europapolitik des SPD-Kandidaten Schröder besteht bislang vor allem aus markigen, nationalistischen Tönen. Und in Zukunft?: Lernziel: Pannenfreies Durchwursteln
In der EU stellt man sich langsam darauf ein, daß Helmut Kohl die Wahlen verlieren und Gerhard Schröder Kanzler werden könnte. Die Begeisterung darüber hält sich fast überall in Grenzen. Nicht, daß die derzeitige Bonner Europapolitik bei den EU-Partnern auf übermäßige Begeisterung stoßen würde. „Aber bei Kohl weiß man, was man hat“, so die immer wieder gehörte Standardformel, „bei Schröder nicht.“
Zwar verspricht Schröder inzwischen treuherzig „Kontinuität in der deutschen Europapolitik“. Doch sein wahltaktisch motivierter Ausspruch vor einigen Monaten, er werde „die deutschen Interessen brutal vertreten“, hallt noch immer nach. Das klingt nach Blutgrätsche und flößt nicht unbedingt Vertrauen ein. Dabei ist es in der EU durchaus üblich, nationale Interessen brutal zu vertreten. Frankreichs Amoklauf gegen den EZB-Präsidenten Duisenberg zum Beispiel war nicht die feine Art. Die spanische Regierung kennt beim Feilschen ums Geld keine Freunde mehr, und Kohls Drohung, bei unverändert hohem deutschen Nettobeitrag notfalls einige Zahlungen auszusetzen, ist auch kein Ausweis filigraner Verhandlungskultur. Wenn es um konkrete Interessen geht, greifen fast alle EU-Regierungen gern mal zum großen Hammer. Es war bisher nur nicht üblich, sich schon vor dem Start als Schmied von Kochel anzukündigen.
Schröders Problem mit der EU ist, daß er das grobe Werkzeug gewählt hat, weil er offensichtlich mit der Feinmechanik noch nicht zurechtkommt. In der EU reichen in vielen Fällen ein Schraubenzieher und viel Ausdauer, um die wichtigsten Einstellungen zu verändern. Aber dafür muß man wissen, was anders laufen soll. Schröders Ausflüge in die EU-Politik haben sich bisher darauf beschränkt, an allem ein bißchen herumzunörgeln, ohne Alternativen zu nennen. Sein undifferenziertes Genöle verriet den Blickwinkel des Provinzpolitikers, der nur die lästigen Zwänge sah, die von Brüssel ausgehen.
Seine Berater versichern aber, daß er dabei sei, jetzt auch die Chancen zu entdecken, die in der EU stecken. Ein SPD-Bundeskanzler könnte in Brüssel einiges bewegen, wenn er denn will. In der Umweltpolitik geht seit Töpfers Abgang so gut wie nichts mehr, weil ein Antreiber fehlt. In der Sozial- und Beschäftigungspolitik wartet eine Mehrheit sozialdemokratischer Regierungen darauf, daß Deutschland die Stöpsel zieht und seine Blockaderolle aufgibt. Auch bei der Verkehrspolitik – Beispiel Brennermaut – verhindert ein deutscher Lastwagen-Minister Wissmann vernünftige Lösungen. Und dann kommt da noch die Osterweiterung, die eine grundlegende Reform der Agrarsubventionen erzwingt. Aber Bonn bremst, statt die einmalige Möglichkeit zu nutzen, die verdrehte Agrarpolitik vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Das Gerede von den deutschen Interessen, die es zu verteidigen gilt, ist hohl, solange die Interessen nicht beim Namen genannt werden. Die Folgen einer „pragmatischen EU-Politik“, wie sie Schröder verspricht, kann man in Brüssel längst besichtigen. Bonn ist berühmt für seinen pragmatischen Wochenansatz: Am Sonntag predigt Kohl die friedenssichernde Wirkung der Osterweiterung, und am Montag warnt sein Landwirtschaftsminister vor der ruinösen Konkurrenz polnischer Kartoffeln und rumänischer Sauerkirschen. Am Dienstag sorgt sich der Finanzminister um die Kosten, am Mittwoch ist der Arbeitsminister mit seinen Bedenken dran, am Donnerstag der Innenminister, am Freitag der Wirtschaftsminister.
„Die deutsche Regierung vertritt viele Interessen“, lästert ein hoher Diplomat in Brüssel, „die sich leider widersprechen.“ Dabei ist es eigentlich unbestritten, daß eine rasche Osterweiterung aus deutscher Sicht das wichtigste Projekt der EU wäre. Aber irgendwie sind die deutschen Sauerkirschen noch wichtiger. Europapolitik braucht nicht unbedingt Visionen, Durchblick genügt. So wie die EU aufgebaut ist, und daran wird sich auf absehbare Zeit nichts ändern, ist Brüssel vor allem ein Basar, auf dem die nationalen Regierungen um die Durchsetzung ihrer Interessen feilschen. Wer wie Bonn nicht in der Lage ist, seine Forderungen nach wichtigen und weniger wichtigen zu ordnen, wird überall mit enttäuschenden Ergebnissen nach Hause kommen.
Was sind denn die wirklichen deutschen Interessen? Ist es das Recht, VW möglichst viel Subventionen zahlen zu dürfen – oder ist es nicht vielleicht doch die bestehende Abmachung, daß im Prinzip keine Regierung Subventionen zahlen sollte? Denn nur dann haben Ausnahmegenehmigungen etwa für Ostdeutschland einen Sinn, um Konkurrenznachteile auszugleichen. Ohne die von Kohl und gelegentlich auch von Schröder kritisierten Brüsseler Subventionsbeschränkungen müßte Bonn das Doppelte und Dreifache ausgeben, um ostdeutsche Betriebe wettbewerbsfähig zu machen. Es ist eine Binsenweisheit, daß viele Probleme national nicht mehr zu lösen sind. Dabei geht es längst nicht mehr nur um die Umwelt-, Sozial- und Steuerpolitik, die bei dieser Gelegenheit immer angeführt werden.
Die eigentliche Herausforderung der nächsten Jahre ist das enorme Wohlstandsgefälle zu Ländern wie Polen oder Tschechien, das vor allem für Deutschland viele Gefahren birgt. Die Bundesrepublik wäre überfordert, müßte sie die wirtschaftliche und politische Stabilisierung dieser Länder alleine übernehmen. Das wird die künftige Hauptaufgabe der EU sein. Um so erstaunlicher ist es, daß Schröder ausgerechnet bei der Osterweiterung der EU zu den Stammtischen hinüberschielt, wo das Maurerhandwerk für die einzig vernünftige Art der Politik steht.
Schröder fordert eine „sorgfältigere“ Vorbereitung auf die Erweiterung, sprich: eine langsamere. Die Sozialdemokraten im Europaparlament reden sich vorsorglich Mut zu. „Europa erzieht sich seine Politiker“, meint der frühere Parlamentspräsident Klaus Hänsch. Andere erinnern an Mitterand, der drei Jahre gebraucht habe, um überzeugter Europäer zu werden, sein Nachfolger Chirac habe es dann in drei Monaten geschafft, Jospin in drei Wochen. Schröder könnte es in drei Tage schaffen. Zum pannenfreien Durchwursteln wird es wohl reichen. Pragmatismus bedeutet in der Politik leider nur, sich von Fall zu Fall zu entscheiden. Für die Durchsetzung der langfristigen deutschen Interessen wäre es nützlich, wenn Schröder sie einmal laut aussprechen würde. Das hilft später bei der Orientierung, wenn es auf dem täglichen Basar etwas unübersichtlich wird. Alois Berger
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