piwik no script img

Neue Identität mit altem Gebein

Rußland trägt seinen letzten Zaren zu Grabe. Der verschwiemelte Umgang mit der Zeremonie zeigt: Kirche und Politik haben sich immer noch nicht entschieden, wie sie sich zur eigenen Geschichte stellen wollen. Die Russen – ein gebeuteltes Volk auf der Suche nach einer neuen Identität  ■ Von Klaus-Helge Donath

Ein heiliger Ort bleibt nicht leer“, sagt ein russisches Sprichwort. Dieser Spruch besitzt bei der derzeitigen Stimmung im Lande mehr Gültigkeit denn je. Das neue Rußland durchsucht eifrig die vorrevolutionären Epochen nach Anknüpfungspunkten, die Kontinuität verheißen, um sich seiner selbst zu vergewissern und zur Ruhe zu finden. Ihre Geschichte verunsichert die Russen, und eine Identität rekonstruieren zu müssen bringt sie sogar in Verlegenheit. Die russischen Schicksalsfragen „Wer sind wir?“ und „Wohin gehen wir?“ treiben das Land um. Die Folgefrage „Was wollen wir nach all den Katastrophen?“ wird indes nicht reflektiert.

Die Beisetzung der sterblichen Überreste des letzten Zaren Nikolaj II. und seiner Familie hätte, so wollte es Präsident Boris Jelzin, eigentlich eine Zäsur in der Geschichte des Landes markieren können. Achtzig Jahre nach der Ermordung der Zarenfamilie durch ein bolschewistisches Exekutionskommando im sibirischen Jekaterinburg werden die Gebeine der Romanows auf der Peter-und-Pauls-Festung in St. Petersburg beigesetzt. Eine Totenfeier sollte es werden, die zu Reue und nationaler Versöhnung aufruft.

Die Planung lief auf Hochtouren. Mit Glanz und Gloria, wie es der Kreml liebt. Die Aspirationen des Präsidenten waren – wie üblich – auch nicht gänzlich frei von Eigennutz. Die Grablegung des Zaren unter Jelzins Ägide wäre einem symbolischen Akt gleichgekommen, mit dem der Präsident gleichsam die legitime Nachfolge des zaristischen Rußland anzutreten gedachte. Der Wunsch breiter Bevölkerungsschichten, eine Verbindung vom Gestern zum Heute zu schaffen, wäre vollzogen.

Ausgerechnet Jelzin, der als Parteisekretär in Swerdlowsk noch 1979 das Haus niederreißen ließ, in dem die Romanows untergebracht waren, damit es nicht zu einer Wallfahrtsstätte werde, hätte die Gesellschaft von einem Trauma befreit: vom Sündenfall der Sowjetzeit. Und hätte darüber hinaus die Vergangenheit durch einen weihevollen Akt gewissermaßen ungeschehen gemacht: Der Zar ist tot, es lebe das Rußland des Zaren!

Es kam mal wieder anders. Einfache Lösungen behagen dem russischen Wesen nicht. Endlose Dispute entzündeten sich schon im Vorfeld, ob überhaupt, wenn ja, wo und wie das Begräbnis begangen werden sollte. Nachdem man sich endlich auf St. Petersburg geeinigt hatte, sagte der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Alexej II., seine Teilnahme ab. Daraufhin mochte auch Boris Jelzin nicht mehr erscheinen. Vizepremier Boris Nemzow sollte das offizielle Moskau vertreten. Kaum ein politscher Würdenträger von Rang und Namen wollte dem Zaren die letzte Ehre erweisen. Ein Staatsbegräbnis als Provinzposse.

Der Patriarch, dessen Kirche die Zaren krönte, lehnte unter recht fadenscheinigen Begründungen ab, die Totenmesse zu halten. Ein namenloser Priester sollte das nunmehr erledigen. Angeblich hegte die Kirche Vorbehalte gegen die Authentizität der Gebeine, die 1979 von Furchtlosen heimlich ausgegraben und über deren Existenz die Öffentlichkeit erst zwölf Jahre später informiert wurde. Genanalysen in russischen und DNS-Daktyloskopien in englischen Speziallabors, die die Originalität der Knochen bewiesen haben sollen – die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums beträgt eins zu zehn Millionen –, reichten dem Heiligen Synod nicht.

Der eigentliche Grund seiner Weigerung, eine Grabrede zu halten, liegt wohl in der widerspruchsvollen Vergangenheit der Kirche. Die orthodoxe Exilkirche hat Nikolaj II. vor rund zwanzig Jahren heiliggesprochen. Das Moskauer Patriarchat tut sich mit der Kanonisierung allerdings schwer. Käme sie doch einem Urteil gleich, das die kommunistische Geschichte dieses Jahrhunderts wiederum unwiderruflich verdammen würde. Die Angst, sich der eigenen Vergangenheit – der Servilität der Kirchenführung gegenüber der Kommunistischen Partei der Sowjetunion seit den zwanziger Jahren – stellen zu müssen, wiegt dabei genauso schwer wie die Befürchtung, Gläubige zu verprellen.

Die russische Gesellschaft ist nicht bereit, sich mit den dunklen Kapiteln der jüngsten Vergangenheit zu befassen. Das nämlich hieße Abschied zu nehmen von der bequemen Opferrolle, in der sich die meisten eingerichtet haben. Vielmehr hofft die Kirche, das vom Kommunismus hinterlassene ideologische Vakuum sinnstiftend zu füllen.

Ausgerechnet die Kommunisten bieten sich der Kirche heute als Partner an. Der aggressive Nationalismus, die Verklärung des unvergleichbaren russischen Wesens und des russischen Sonderweges entsprechen den xenophoben Überlegenheitsphantasien und dem Unfehlbarkeitsdogma der Orthodoxie.

Also wurde der Zar in Streit und Zwietracht beinahe sang- und klanglos unter die Erde gebracht: „wie ein Heiliger in der Wüste“. Die Zahl der Ehrenwachen wurde erheblich gekürzt, die Särge sind aus gewöhnlichem Holz. Für die Grabsteine fand das sonst so großkotzige neue Moskau nicht einmal Marmor.

Die plötzliche Gleichgültigkeit der Politiker widerspricht jedoch kraß der Götzenverehrung, die dem Zaren und seiner Familie in den letzten Jahren erwiesen wurde. Jüngst etwa eröffnete in Moskau eine Fotoausstellung, die Nikolaj II. von seiner menschlichen Seite darstellt, in ihm „einen liebenswürdigen Familienvater“ erkennen will, der „eigentlich einer von uns ist“. Biographien und Bildbände bis hin zu aristokratischen Schlafzimmerromanen überfluten die Buchläden. Den meisten Publikationen geht es nicht um Fakten und eine historische Beurteilung der Rolle des Zaren.

Sie stricken Mythen, die die Gegenwart mit dem Vergangenen verknüpfen, indem sie sich an den glänzenden Oberflächen aufhalten. Simple, historisierende Muster erklären Gegenwart und Zukunft zugleich. Der unter Gorbatschow begonnenen Entmythologisierung der kommunistischen Vergangenheit folgt nun die Mythologisierung alles Vorrevolutionären.

Das treibende Motiv ist dasselbe geblieben: die nationale Würde zu bewahren. Die Hysterie um die Romanows ist die dritte Phase historischer Erinnerungsarbeit des neuen Rußland. Zunächst wandte man sich auf der Suche nach dem menschlichen Antlitz des Sozialismus den Antipoden Stalins zu, Nikolaj Bucharin und Lew Trotzki. Danach wurden die Reformer der Jahrhundertwende, die Ministerpräsidenten unter Nikolaj II., Sergej Witte und Piotr Stolypin, rezipiert. Die Auseinandersetzung mit ihren gescheiterten Reformen bot indes wenig fruchtbares Material, um daraus eine ermutigende Traditionslinie zu konstruieren. Im Gegenteil.

Also rückte die Monarchie in den Mittelpunkt. Vergessen war der makabre sowjetische Witz, man wolle dem Zaren Nikolaj posthum den Orden „Held der Sowjetunion“ verleihen – schließlich habe er durch seine glücklose Regentschaft die revolutionäre Situation erst herbeigeführt. Die politische Inkompetenz des Monarchen wird von Rußlands Historikern gerne übergangen. Dabei hatte er zahlreiche Blutopfer zu verantworten. Bei seiner Inauguration 1896 starben 1.300 Menschen, was ihn nicht davon abhielt, die Feierlichkeiten trotzdem fortzusetzen. 1905 schickte er Rußland in einen unsinnigen Krieg mit Japan, den er prompt verlor. Bittsteller, die sich direkt an ihn wenden wollten, ließ der „blutige Nikolaj“ 1905 in St. Petersburg zusammenschießen.

Es gibt wenig, was sich zu seiner Verteidigung als Staatsmann und praktizierender Christ ins Feld führen ließe. Während der Februarrevolution 1917 mußte Nikolaj II. abdanken, nachdem sogar die Generalität ihm die Gefolgschaft aufgekündigt hatte. Die Verherrlichung des Zaren belegt: Tradition ist weniger ein Produkt der Vergangenheit als eines der Gegenwart. Das kollektive Gedächtnis orientiert sich nur ungern an den historischen Fakten. Die Schriftstellerin Tatjana Tolstaja zitiert eine aristokratische Zeitzeugin, die ihr von der Tafelrunde des Zaren erzählte: „Er hatte immer herrlich frische süße Sahne, kann er ein schlechter Mensch gewesen sein?“

Der Rückgriff auf die mythologisierte Vergangenheit macht selbst vor westorientierten Politikern nicht halt. Der Verlust des Imperiums, der Weltmachtgeltung und die Notwendigkeit, sich zum ersten Mal in der Geschichte auf einen – erst entstehenden – russischen Nationalstaat beschränken zu müssen, erschüttert die Russen. Die Monarchie als Verkörperung der gosudarstwennost – der vertikalen, zentralen Staatlichkeit – erscheint vielen in diesen Zeiten der Wirren ein verlockendes Ordnungsprinzip zu sein.

Nicht zufällig erschien vor kurzem ein historischer Leitfaden der Geschichte Rußlands vom 9. Jahrhundert bis 1997, den der Staat an seine Bediensteten kostenlos verteilte. Die Essenz: Rußlands Geschichte war ein linearer Prozeß ohne Brüche. Deren Kontinuität verbürgte die staatliche Macht.

Die Suche nach Anschlüssen in der Geschichte taucht tief in die Welt des Symbolischen ein. Die Hymne der UdSSR wurde durch eine Melodie aus Michail Glinkas Oper „Ein Leben für den Zaren“ ersetzt. Noch gibt es aber keinen Text, den auch die Opposition in der Duma akzeptiert hätte. Selbst um die staatliche Heraldik entbrennen gelegentlich Kämpfe. Kaum war Boris Jelzin 1996 ein zweites Mal zum Präsidenten gewählt, schrieb er einen Wettbewerb aus: „Idee für Rußland“. Ein ganzes Land wurde mit Hilfe eines Wettdenkens auf die Suche nach sich selbst geschickt. Der Sieger steht inzwischen fest, was die begeisterten Ideenstifter jedoch nicht hindert, weiter Entwürfe einzureichen.

Der Gewinner, ein Geschichtsprofessor aus Wologda, wünscht, Bürger und Staat mögen sich gemeinsam für die Wiedergeburt Rußlands in die Pflicht nehmen. Sein Motto lautet „Rußland für mich und ich für Rußland“. Rußlands Mächtige glauben dem Land wieder eine Idee stiften zu müssen. Demokratie und offene Gesellschaft scheinen dem Kreml noch keine Werte an sich, geschweige denn verläßliche Grundpfeiler des Staatswesens zu sein. Das Übel liegt aber nicht im Fehlen einer verbindenden Idee. Im Gegenteil, nach wie vor ist sie omnipräsent, sie verschlingt alles.

Die Hypertrophie des Staates, dessen unaufhörlicher Drang nach territorialer Expansion und seine Weigerung, das Individuum anzuerkennen, berauben Rußland immer wieder der Luft zum Atmen. Der Hang zum Messianismus, der die eigene Überlegenheit preist und Andersdenkende nicht toleriert, gerinnt wieder zur nationalen Ideologie. Dazu paßt die Neigung, sich in gigantischen Unternehmungen kollektiv zu überheben, um die eigene Schwäche zu kaschieren. Wenn etwas fehlschlägt, weist man die Verantwortung kaltschnäuzig von sich. Oft führt das zu einer Vermengung von Illusion und Wirklichkeit, zur Verwechslung von Rede und Tat.

Viele Intellektuelle sind verzückt vom nationalen Entwurf, der eigentlich seit hundertfünfzig Jahren keine Überarbeitung erfahren hat. Das idealistische Denken der Slawophilen zehrte von einer Erinnerung an eine nie gewesene Vergangenheit und von der Sehnsucht nach einer nie eintretenden Zukunft. In der Kirche, genauso wie unter Nationalisten und Kommunisten, stellt dieses Denken die tragende Ideologie dar, die ihre Abneigung gegenüber dem westlichen Zivilisationstypus nicht verhehlt.

Im Westen herrsche der „kalte Verstand“, „die glänzende Oberfläche“, in Rußland das „heiße Herz“, die „dunkle Tiefe“. Dort sei die Gesellschaft atomisiert, in Rußland dagegen habe sie ihre Ganzheitlichkeit bewahrt. Solche Bilder und die Sprache sind der deutschen Romantik entlehnt, die damit die Gegensätze von Mittelalter und Neuzeit beschrieb. Der russische Diskurs begreift den Gegensatz räumlich: Hier, in Rußland, habe sich das wahre, das orthodoxe Christentum bewahrt, dort, in Europa, herrsche die Häresie.

Doch genug der Metaphorik. Alexander Panarin, der Dekan für Politologie der Moskauer Staatsuniversität, übersetzt dies in einen politischen Handlungsauftrag. Das liest sich so: „Früher oder später muß jede Partei in Rußland erkennen: Es bedarf einer vom Staat vorgegebenen und sogar messianischen Idee, die die Weltgeltung Rußlands und seine Mission proklamiert.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen