: Wenn das Spielzeug Urlaub macht
Das Kinderhaus Heinrichstraße ist spielzeugfrei. Die Kinder toben statt dessen gemeinsam, spielen Fernsehserien nach oder schaukeln einfach ganz entspannt in der Hängematte ■ Von Christine Holch
Die Kiste mit Duplo-Steinen ist weggeräumt, Puppen und Kuscheltiere ebenso. Keine Bilderbücher liegen herum, keine Kassetten, kein Bastelkram. Es ist leer in den zwei Räumen der „Rasselbande“ im Kinderhaus Heinrichstraße in Eimsbüttel. Leergeräumt steht der Kaufmannsladen im Eck. Das Spielzeug „macht Urlaub auf dem Dachboden“, sagen die Kinder.
Manche Eltern hatten entsetzt reagiert, als ihnen vor einem Jahr die beiden Erzieherinnen Dörte Feltz und Lerke Krebs das Projekt „Spielzeugfreier Kindergarten“ vorschlugen. „Was soll mein Kind denn dann machen?“, fragten sie. „Das wissen wir auch nicht“, sagten die beiden Erzieherinnen. Sie hatten von der Idee bislang nur gelesen. Denn schon Anfang der 90er Jahre wurde sie im bayerischen Landkreis Weilheim-Schongau ausprobiert. Anlaß für das Experiment war die Beobachtung, daß Kinder oft gar nicht mehr intensiv spielen, sondern das im Überfluß vorhandene Spielzeug nur noch „verbrauchen“ – gleichsam als Ersatzbefriedigung für ganz andere Bedürfnisse.
„Die ersten zwei Wochen war bei uns die Hölle los“, erzählt Dörte Feltz heute, „es war laut und chaotisch.“ Die einen tobten herum, die anderen folgten den Erzieherinnen überall hin, krochen ihnen auf den Schoß und maulten: „Mir ist sooo langweilig.“ So schwer es den Kindergärtnerinnen auch fiel, so sehr sie sich selbst langweilten: Sie machten keine Angebote. Kein Basteln, kein Singen, kein Vorlesen. Schließlich ging es nicht in erster Linie darum, den Kindern das Spielzeug wegzunehmen, sondern darum, ihnen Raum und Zeit zu geben, eigene Ideen zu entwickeln.
Und so langweilten sich die Kinder zunächst – erst alleine, dann zusammen. Schließlich begannen sie, miteinander zu spielen. Rollenspiele vor allem, die sie zuvor nur mal zwischendurch interessiert hatten: Hochzeit zum Beispiel, Fernsehserien, Urlaub mit Oma und Opa. Oft spielten sie tagelang dieselbe Geschichte weiter. Und dann gab es da noch Tische, Stühle und zahllose Polster. Der Stuhl wurde mal zum Puppenwagen, mal zum Flugzeug und die Polsterberge zu Burg oder Höhle.
Lea saust einmal kurz durch den Raum. Langweilig? Nö, langweilig ist ihr nicht ohne Spielsachen. Sie spielt mit ihrer Freundin am liebsten und ausdauernd Pferd. Sie ist dann die Reitlehrerin, die Freundin das Tier. Karl hingegen hat lange gelitten. Früher verbrachte er ganze Vormittage in einer Ecke des Kindergartens und spielte allein mit den Duplos. Tagelang lief er ratlos herum, als das Spielzeug plötzlich verschwunden war. Irgendwann forderten die anderen ihn dann zum Mitspielen auf. Jetzt hat er gleich zwei Freunde, Paul und Dominik, mit denen baut er Höhlen.
Die Kinder spielen inzwischen viel öfter miteinander, haben die Erzieherinnen beobachtet. Sie bleiben länger dran. Und sie reden viel mehr miteinander. Denn das dauert, bis geklärt ist, wer nun das Kind spielen darf und wer den Vater. Oder wer die Prinzessin ist. Kinder, die früher abseits standen, sind heute integriert – sie können bei einem Streit nicht einfach weglaufen, um allein weiterzuspielen, sondern müssen sich auseinandersetzen.
Unter den Kindern gibt es aber inzwischen viel seltener Streit. Die Stimmung ist gelassener geworden. Immer wieder nimmt sich jemand mal eine Auszeit in der Hängematte. „Da schaukeln fünfjährige Jungs eine halbe Stunde lang hin und her“, meint Erzieher Peter Goldschmidt erstaunt, der neu zur Gruppe gestoßen ist und andere Kindergärten kennt. „Sie müssen nicht mehr Angst haben, daß anschließend das Spielzeug weg ist oder ihr Territorium – sie können ja überall mitmachen.“
Eigentlich sollte das Experiment nur drei Monate dauern. Aber weil es den Kindern so gut gefiel, bleibt die Gruppe im Kinderhaus Heinrichstraße spielzeugfrei. Mittlerweile haben zwar Scheren, Papier, Stifte und Verkleidungssachen wieder Einzug gefunden. Aber Anleitungen zum Malen gibt es nicht. Manchmal, „aber viel seltener als zuvor“, lesen die Erzieherinnen auch vor. Oder sie erlauben eine Kassette. „Wir Erwachsenen haben ja auch manchmal das Bedürfnis, einfach nur abzuhängen.“
Einmal wöchentlich gibt es sogar einen „Spielzeugtag“: Jedes Kind darf dann ein Spielzeug von Zuhause mitbringen. Oft kommen die Mädchen mit ihrer Barbie, die Jungs mit einer Playmobil-Figur, um sie den anderen zu zeigen. Das war's dann aber auch schon; die Sachen fliegen in die Ecke, die Kinder toben anderswo weiter.
Freitags ist „Duplo-Tag“: Dann wird die große Kiste mit den bunten Steinen aus dem Regal geholt. Neulich fiel den Kindern allerdings erst mittags ein: „Heute ist doch eigentlich 'Duplo-Tag'.“ Auch am „Duplo-Tag“ spielen sie intensiver, sagt Dörte Feltz: „Da hat nicht mehr jeder sein Klümpchen, sondern sie bauen zusammen große Städte und besprechen ganz genau, wo eine Brücke hin soll.“
Über einhundert spielzeugfreie Kindergärten soll es inzwischen in der Bundesrepublik geben, die meisten davon in Süddeutschland. In Hamburg arbeiten nur wenige nach diesem Konzept, zum Beispiel die Tagesstätte „Krabbelkiste“ in Marmstorf, wie das Kinderhaus Heinrichstraße in freier Trägerschaft.
Doch es gibt auch Kritik. „Da wird ein Element als der Teufel angesehen und verbannt“, sagt Anke Steenken, Dozentin an der Fachhochschule für Sozialpädagogik. „Das ist weltanschaulich. Es kommt doch auch auf die Art des Spielzeugs an.“
Sicher, meint Sabine Prengel, Dozentin an der Berufsfachschule für Kinderpflege, „die Idee ist dem Hirn von Erwachsenen entwachsen; die Kinder bekommen zwar Freiräume, aber der Rahmen ist künstlich gesetzt.“ Künstlich sei allerdings auch die heutige Kinderwelt mit ihrem Überangebot an Spielzeug, das mit genauen Regeln für seinen Einsatz belegt ist. „Wir haben einfach die Erfahrung gemacht, daß oft in den kleinen täglichen Dingen der größte Reiz für die Kinder liegt – für ein dreijähriges Kind können fünf Treppenstufen auf- und anregender sein als das schönste Spielzeug der Welt.“
Ganz spielzeugfrei sollte ein Kindergarten auf Dauer nicht sein, meint auch Dozentin Prengel. Materialien seien wichtig für die Entwicklung der motorischen Fähigkeiten. Im Ausbildungskindergarten in der Eppendorfer Landstraße, der zur Berufsfachschu-le gehört, wurde deshalb nach der dreimonatigen Radikalphase ein ausgesuchter Teil des Spielzeugs zurückgeholt. Jetzt ist der Kindergarten „spielzeugarm“.
Und diese Beschränkung sei dringend nötig, sagt Sabine Prengel. Viele Eppendorfer Kinder seien materiell überversorgt – Ballettstunden, Klavierstunden, Reitstunden. „Die Kinder haben keine Zeit und wissen oft gar nicht, was sie eigentlich möchten und brauchen. Sie wissen noch nicht mal, ob sie bei dem Wetter eine Jacke brauchen oder nicht.“
Viel gelernt haben aber auch die ErzieherInnen. Sie sind nicht mehr die AnimateurInnen, die ständig neue Angebote machen müssen und Kinder, wenn sie schlecht drauf sind, mit einem: „Sei nicht traurig, wir spielen was“ ablenken. Die Kinder können mehr, als die ErzieherInnen ihnen zutrauten. Auch einen Streit schlichten, selbst wenn das ohne Eingreifen der BetreuerInnen, länger dauert. Und so haben die KindergärtnerInnen auf einmal viel mehr Zeit für intensive Einzelgespräche oder auch zum Kuscheln mit den Kindern.
Weitere Informationen:
Berufsfachschule für Kinderpflege mit Praxisbildungsstätte, Tel.: 4667 2830 oder 4667 2449 (dort wurde auch ein Reader mit Erfahrungsberichten erstellt).
Kinderhaus Heinrichstraße in Eimsbüttel, Tel.: 43 39 49 oder 43 79 69.
Kindergarten Krabbelkiste in Marmstorf, Tel.: 760 79 45
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