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Marcel Vervloesem hat so gar nichts von einem Privatdetektiv. Aber der Mann, der vor kurzem den internationalen Kinderporno-Ring enttarnte, stellt Fragen, kombiniert und recherchiert im Internet. Nur zu gerne hätte die holländische Polizei sein Material. Aus Morkhoven Alois Berger

Sein Password heißt Beharrlichkeit

Im Wohnzimmer von Marcel Vervloesem prallen ein paar Welten aufeinander. Auf dem abgeschabten Plüschsofa, zwischen Porzellanfiguren und Spitzendeckchen, sitzt der Held der Geschichte, ein Belgier, der die Polizei nun zum zweiten Mal auf die Spur eines internationalen Pädophilen-Rings gebracht hat. Wenn er so erzählt, von der bösen Welt der Kinderschänder, die Säuglinge vergewaltigen und Bilder davon übers Internet verbreiten, dann wirkt das alles ziemlich weit weg.

Marcel Vervloesem, ein Fabrikarbeiter um die Fünfzig, hat nichts von einem Privatdetektiv. Es ist nur so, daß einige Eltern aus der Bürgerinitiative („Werkgroep“) Morkhoven vor ein paar Jahren geklagt haben, ihre Kinder würden immer wieder sexuell belästigt. Bis dahin hatten sich die rund 20 Leute der Werkgroep ganz allgemein um Benachteiligte gekümmert, sich bei Kinobesitzern beschwert, daß der Behinderteneingang fehlt, oder unmenschliche Isolierzellen in einer psychiatrischen Klinik öffentlich gemacht.

Irgendwann 1992 kam die Kindersex-Geschichte, und die Morkhovener sind einfach drangeblieben, haben Informationen gesammelt und Nachforschungen angestellt. Als dann der in Berlin vermißte, damals 12jährige Manuel Schadwald angeblich in Rotterdam gesehen wurde, da hat Vervloesem nicht mehr lockergelassen. „Was wir herausgefunden haben, hätte auch die Polizei herausfinden können“, sagt er, „aber die schauen lieber weg.“

Vervloesem kennt mittlerweile viele Pädophile, hat mit ihnen telefoniert und einige in Bars oder Parks getroffen. Der kleine Mann mit dem Kugelbauch ist ins Milieu eingedrungen, aber nicht verdeckt als Mitspieler, sondern als hartnäckiger Fragensteller. „Die streiten ihre Taten gar nicht ab, sie sagen immer nur, sie hätten aufgehört mit Kindern.“ Um sich herauszureden, gaben sie ihm Namen und Adressen von anderen, die viel schlimmer seien. Und hier hat Vervloesem weitergebohrt.

Die unaufgeregte Art, mit der er von seinen Recherchen erzählt, steht in eigenartigem Kontrast zu den Zeitungsartikeln, die auf dem Tisch liegen. Politiker aller Länder geben sich darin entsetzt, fordern härtere Strafen und eine Aufrüstung der Polizei. Das Internet habe eine neue Dimension des Verbrechens an Kindern eingeleitet, dem nur mit der Ausbildung von Spezialisten beizukommen sei.

Vervloesem hat auch einen Computer, aber den Pädophilen- Ring hat er in der realen Welt ausfindig gemacht. Er ist nicht durchs Netz gesurft und hat auch nicht mit Suchmaschinen nach dem Kindersex gefahndet. Bevor die Bilder im Internet landen, müssen sie schließlich irgendwo gemacht werden, im aktuellen Fall von Menschen, die sich im ganz realen Belgien, in Deutschland oder den Niederlanden aufhielten. Dort hat die Werkgroep Morkhoven sie gefunden.

Das Dorf Morkhoven liegt eine Autostunde von Brüssel im platten Flandern, wo sich die Bäume gegen den steifen Wind stemmen und die Menschen in ihren adretten Häuschen einen sturen Kopf bewahrt haben. Nicht erst seit der Dutroux-Affäre genießen Politiker und Polizei hier keinen sehr guten Ruf. Die Mauscheleien, Vertuschungen und Unfähigkeiten der belgischen Behörden, die da plötzlich international bekannt wurden, haben Vervloesem nicht sonderlich überrascht. Vielleicht ist es diesem Umstand zu verdanken, daß der Belgier aus Morkhoven den Skandal im holländischen Zandvoort aufgedeckt hat. Er hat einfach sein Mißtrauen gegenüber der belgischen Polizei auf die holländischen Polizisten übertragen.

Und es sieht so aus, als ob er damit recht gehabt hat. Die Geschichte beginnt 1992, als sich herumgesprochen hat, daß die Werkgroep Morkhoven sich auch um sexuell mißbrauchte Kinder kümmert. Da wird ihr ein unappetitliches Videoband zugespielt, auf dem einige Männer beim Sex mit Kindern zu erkennen sind. Doch die belgische Polizei reagiert nicht, fünf Jahre lang. Es gebe keinen Pädophilen-Ring, verkündet der Justizminister noch 1997.

Marcel Vervloesem vermutet, daß die Erkenntnisverweigerung damit zu tun haben könnte, daß einer der Männer auf dem Video entfernt mit einigen belgischen Politikern verwandt ist. „Die Polizei wollte keine Scherereien.“ In der Zwischenzeit hat die Werkgroep herausgefunden, daß der Videofilm auf der Insel Madeira gedreht worden ist. „Ich bin hingefahren und habe das Band der dortigen Polizei in die Hand gedrückt“, erzählt Vervloesem. Ein Portugiese wird daraufhin verhaftet, gegen zwei Belgier und einen Holländer internationaler Haftbefehl erlassen. „Da mußten auch die Belgier reagieren.“

Bei seinen Recherchen war Vervloesem immer wieder auf den Namen Gerrit Ulrich gestoßen. Er macht ihn ausfindig, den jungen Mann, der in Pornofilmen gespielt hat und von Hollywood träumt. Vervloesem befragt ihn über seine möglichen Verwicklungen in Kindersex-Geschichten. Am 11. Juni 1998 ruft Ulrich um Mitternacht bei Vervloesem an. Er habe persönliche Probleme und wolle aussteigen. Einige Tage später bekommt die Werkgroep Pornofotos und eine Computerdiskette mit Kindersex-Filmen zugeschickt. Am 13. Juni meldet sich Ulrich noch einmal telefonisch. Er sei in Lyon und auf dem Weg nach Spanien.

Was Gerrit Ulrich damit erreichen wollte, wird sich nicht mehr klären lassen. Am 26. Juni erfährt die Werkgroep von Ulrichs Vater, daß sein Sohn in Italien erschossen wurde. „Er hat uns in Gerrits Wohnung in Zandvoort gelassen“, sagt Vervloesem. „Er wollte, daß der Mörder gefunden wird.“ Die niederländische Polizei jedoch beschuldigt die Werkgroep, dort eingebrochen zu haben.

Wie dem auch sei, die Werkgroep hat seitdem einige Dutzend Filme und Disketten mit Kinderpornos in ihrem Besitz, aber auch mit Adressenlisten. Einige Namen aus dieser Liste tauchen auch auf Kontoauszügen von Ulrich auf, mit Vermerken wie: Apollo, 1.249 Gulden. Vervloesem hat eine der Disketten in den Computer gesteckt und Apollo eingetippt; auf dem Bildschirm erschien daraufhin ein Inhaltsverzeichnis abgespeicherter Filme, einige mit Zusätzen wie „blond“ oder „klein“ gekennzeichnet.

Wenige Tage später fällt der Werkgroep ein zweiter Schwung in die Hände. In Italien wird inzwischen Rob van der P. als Mordverdächtiger festgenommen. Seine Frau in Zandvoort erzählt der holländischen Polizei, ihr Mann habe Kinderpornos gemacht und vertrieben. „Aber die wollten das gar nicht wissen“, schildert Vervloesem, „das hat die einfach nicht interessiert.“

Erst eine Woche später, als die holländische Presse von einem Kindersex-Zentrum in Zandvoort berichtet, rückt auch die Polizei an. Vor allem im „Cube Hardware“-Shop, einem Videoladen, den Ulrich und van der P. gemeinsam an der Strandpromenade von Zandvoort führten, werden sie fündig.

Eine Sondereinheit wertet seitdem Hunderte von Filmen und Disketten aus, auf denen Kinder und selbst Säuglinge grausam vergewaltigt werden. Einen Teil des Materials hat nicht die Polizei, sondern die Werkgroep. Die Frau von Rob van der P. habe ihr Zugang verschafft, betont Vervloesem, nachdem sie bei den Behörden kein Gehör gefunden hatte. Sie habe seit zwei Jahren von den Geschäften ihres Mannes gewußt. „Sie hat uns die Wohnung durchsuchen lassen, um zu zeigen, daß sie damit nichts zu tun hat.“

Drei Computerfreaks der Werkgroep sitzen nun irgendwo in Flandern und versuchen, die Passwords zu knacken. „Wir sagen nicht, wo sie sind“, so Vervloesem, „sie brauchen ihre Ruhe.“ Vor allem vor der Polizei, die gerne das ganze Material hätte. „Aber dann könnten wir nicht mehr sicher sein, daß sie ihre Arbeit ganz machen.“ Neben seinem Computer hat Vervloesem einen Plan an die Wand geheftet, mit Namen und Adressen von Verbindungsleuten des Pädophilen-Rings, so wie er sich der Werkgroep darstellt.

„Wir werden da wohl noch ein paar Blätter dranheften müssen“, sagt Vervloesem. Er blättert die mitgenommenen Adressenlisten durch, liest Namen und Länder vor, um die internationalen Verbindungen der Organisation zu illustrieren: Deutschland, Österreich, USA, Tschechien, Israel...

Unfreiwillig zeigt er damit auf, welche Probleme es mit sich bringen kann, wenn einige Bürger die Sache selbst in die Hand nehmen. Der ermordete Gerrit Ulrich hat offensichtlich viele Adressen gesammelt, auch von Leuten aus dem ganz normalen Filmgeschäft sind welche darunter, die ihn vermutlich Hollywood näher bringen sollten. In den Händen von Vervloesem werden sie nun zu Mitgliedern des Pädophilen-Rings.

Andererseits wäre die Werkgroep wohl auch nicht so weit gekommen in einem Land, in dem der Datenschutz gerne als Vorwand genommen wird, um politisch unangenehme Ermittlungen zu blockieren. Viele Belgier glauben inzwischen ohnehin, daß die Behörden ihre Energie großenteils darauf verwenden, Ermittlungspannen zu vertuschen und die öffentliche Kontrolle abzuwehren. „Wer immer sich in Belgien gegen Verbrechen an Kindern engagiert hat“, schimpft Vervloesem, „hat irgendwann eine Klage am Hals.“

Seine Aufzählung fängt mit Marie-France Botte an, die sich für die Opfer des Kindersex-Tourismus in Thailand stark gemacht hat und prompt der Unterschlagung von Spendengeldern beschuldigt wurde. Und sie geht bis zu Vervloesem selbst. Denn vor zwei Jahren wurde er für 15 Tage ins Gefängnis gesteckt, weil er einen bis dahin unbescholtenen Bürger verfolgt hat. Der hatte bei der Polizei angegeben, Vervloesem hätte versucht, ihn mit getürktem Material über Kindesmißbrauch zu erpressen. Die Polizei nahm das sehr ernst. Der Richter kam dann aber zu dem Schluß, daß die Vorwürfe nicht erfunden waren und auch keine Erpressung vorlag. Der Angeklagte wurde ausgewechselt: Vervloesem kam sofort frei, der bis dahin unbescholtene Bürger ist seitdem nicht mehr unbescholten.

Es ist sehr schwierig, in der Unmenge der Informationen, die die Werkgroep Morkhoven zusammengetragen hat, zwischen belegbaren Tatsachen und bloßen Vermutungen zu unterscheiden. Vor allem bei den Nachforschungen zu dem Berliner Jungen Manuel Schadwald scheinen die Beweise, daß er noch lebt und in niederländischen Stricherbordellen festgehalten wird, eher dünn zu sein. Ausgeschlossen ist es trotzdem nicht, und wenn die Werkgroep Morkhoven nicht immer wieder auf diese Möglichkeit hindeuten und neue Hinweise bringen würde, hätte auch die deutsche Polizei ihre Ermittlungen vermutlich längst eingestellt. Die Berliner Polizei hat nach eigenen Angaben inzwischen die Vernehmung des in Rom inhaftierten Niederländers Rob van der P. beantragt.

Marcel Vervloesem gibt sich überzeugt, daß die Computerleute der Werkgroep in den nächsten Tagen die Passwords finden und die 3.000 gesperrten Seiten auf den Disketten freilegen werden. Ob sie das vor oder nach der Spezialeinheit der Polizei in Zandvoort schaffen wird, ist ihm egal; in jedem Fall werde dann das ganze Außmaß des Pädophilen-Netzwerks bekannt.

Vielleicht gibt es dann auch Querverbindungen zur Dutroux- Affäre, die Belgien seit zwei Jahren erschüttert. Von der Suche nach den Kunden von Marc Dutroux, der mindestens sechs Kinder entführt und in Kellern vor laufenden Videokameras mißbraucht hat, hört man schon lange nichts mehr. Doch ohne die Schrecken der Dutroux-Geschichte hätte die Werkgroep Morkhoven nie das öffentliche Interesse gefunden, das nötig war, um der Polizei auf die Sprünge zu helfen.

Wenn Marcel Vervloesem so zwischen den Aktendeckeln in seinem kleinen Büro herumspringt, macht er nicht den Eindruck, als wolle er sich auf seinen Lorbeeren ausruhen. „Wir wissen noch immer nicht, wer die unzähligen Kinder waren und was aus ihnen geworden ist“, sagt er.

Aber er sagt auch, daß es Aufgabe der Polizei ist, mit ihren weitaus besseren Möglichkeiten, die Kinder und die Kunden zu finden. So weit geht sein Mißtrauen gegenüber den Behörden dann doch nicht. Aber vielleicht ist es auch nur die Gewißheit, daß die sich unter Druck sehen: „Wir haben jede Menge Disketten.“ Was wohl heißt: Wenn die Polizei Spuren vernachlässigen sollte, wird die Öffentlichkeit davon auf jeden Fall erfahren.

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