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Die rohe Nacktheit des Suppenwürfels

■ Vierzehn Volkshochschüler erkunden die Welt: Beeindruckende, vielseitige Fotoausstellung im Medienzentrum Walle

In seinem Essay über Fotografie erzählte Roland Barthes irgendwann, wie das Sehen von der lähmenden Last der Erfahrung befreit und jungfräulich-frisch wird. Beim Stöbern durch alte, vergilbte Porträtfotos fiel sein Auge auf irgendeine Schleife, auf irgendeinem Schuh. Die Einsicht, daß auf dieser großen, schönen Erde so obskure Dinge wie Schuhschleifen ihren festen Platz haben, überrollte ihn mit der Heftigkeit einer nobelpreiswürdigen Erkenntnis. Die wahren Entdeckungen gründen sich auf Lappalien.

Auch die 14 Fotografen, deren Arbeiten derzeit die verzweigten Flure des Medienzentrums Walle besetzt haben, scheinen nach einer produktiven Entfremdung des allzu Vertrauten zu forschen. Von Gervais „Obstgarten“-Quark ist die bunte, geschwätzige Alufolie weggerissen (Ulrike Ludwig), und wir sehen jene verlockende Schaumigkeit, die die Werbung verspricht – eben nicht, sondern eine strenge mathematische Figur, ein Rechteck in fahlem Weiß mit abgerundeten Ecken.

Auch die Pop-Ikone der deutschen Küche, der verehrte Maggie-Suppenwürfel, wird uns vorgeführt in all seiner Nacktheit und Blöße. Sexy wirkt er nicht, eher seltsam. Kaum zu glauben, daß Millionen dieser Dinger Tag für Tag in Myriaden von Mägen hin- und herschwappen. Scheiben rohen Fleisches, abgenuckelte Kirschkerne, Gewürzhäufchen: überall ist ein interessantes Flirren von Glanzlichtern und Fasern, Krümeligkeit und Porösität, welche auf keinem Werbeplakat zu finden sind, ganz einfach, weil sie mehr sind als schnöder Kaufanreiz.

Sie machen alles, zumindest alles mögliche. Unter den vierzehn Fotografen ist eine Hauptschullehrerin, ein Ingenieur, ein Augenoptiker, eine alleinerziehende Mutter und jede Menge Studenten (von der Volkswirtschaft bis zur Theaterwissenschaft). Drei Semester lang haben sie sich alle an der Otto-Suhr-Volkshochschule in Berlin-Neukölln mit Theorie und Praxis der Fotografie beschäftigt, angeleitet von Winfried Mateyka. Unterschiedlich wie die Berufe sind die Interessen. Die Kameras der Fotografen spionieren nicht nur in Küchenschränken, sondern stochern in abgelegenen Ecken und verborgenen Nischen in Stadt, Land und Gesicht .

Eine der Kameras stöbert eine aufgelassene Mobil-Tankstelle auf, am Ende der Welt und am Anfang irgendeines Meeres. Natürlich ist diese auf Sand gebaut. Wer hat hier Energie getankt? Gerade da, wo Leben abwesend und nur noch in letzten Relikten greifbar ist, leuchtet es besonders interessant. Fotografische Ästhetik funktioniert da fast wie die menschliche Psyche, die alte Nostalgikerin. Wessen Schuhe haben die Kratzspuren in die Kinderrutsche hineingraviert (Karl Böttcher)? Was für eine Familie hauste in diesem Wohnmobil (Ronals Balczuweit)? Welche Menschen mußten hinter jenen öden, verschwommenen Stacheldrähten vom KZ Sachsenhausen ausharren (August Kmeth)?

Dieses erstaunlich schweigsame, fast schon bockige Holocaust-Bild ist auf einen brachialen Holzbalken aufgeklebt. Ausgebleichte Szenen aus verlorenen Vorstädten dagegen schwimmen klein im weißen Nirvana eines großen Passepartouts. Die großen, alten, ruhigen, weisen Augen von Kindergesichtern (Petra Püttmann) lugen aus einem quadratischen Format, das mit seinem weißen Rahmen eine Polaroid-Aufnahme simuliert: Flüchtig wie der Urlauberblick muß jedes Bild vom Menschen bleiben. Bildformat und Hängung sind ebenso unterschiedlich wie wohl durchdacht.

Bilder mit dem Titel „Mondlicht“ ertasten die Grenze zwischen Gerade-noch-Sichtbarkeit und blindem Schwarz. Der Mond fehlt. Eine andere Serie zeichnet den normalen Tagesablauf eines durchschnittlichen Mundes (fressend, schweigend, zürnend) in grobkörniger, blasser Textur auf (Antje Hertel). Verwackelt, verwischt, gekippt, unscharf: Vielfältig sind die Methoden, aus der Mangelhaftigkeit unseres Sehens zu lernen.

Barbara Kern

ProjektFreieFotografie, bis 30. August. Waller Heerstraße 46

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