■ Nachschlag: Die Geburt des deutschen Films aus dem Trauma – ein Phänomen
Starrer Blick, automatenhafte Motorik, Blutleere, Sprachlosigkeit, Amnesie, Lethargie, Krämpfe, Zuckungen, Halluzinationen und tranceartige, durch Mondlicht produzierte Aktionen: mit solchen Begriffen attributierte in den zwanziger Jahren die medizinische Wissenschaft jene psychischen Phänomene, die unter „Somnambulismus“ subsumiert wurden. Anton Kaes, deutscher Filmtheoretiker mit Lehrstuhl an der University of California in Berkeley, versuchte am Montag in den Geisteswissenschaftlichen Zentren der Humboldt-Universität an den deutschen Filmen jener Tage die Sozialpathologie der Zwischenkriegszeit festzumachen.
Die Symptomatologie zeitgenössischer Militärpsychiatrie, wie sie 1915 exemplarisch von Alois Alzheimer (ja, der) in der Abhandlung „Der Krieg und die Nerven“ dargelegt wurde, hat erstaunliche Ähnlichkeiten nicht nur mit der schauspielerischen und inszenatorischen Praxis der zwanziger Jahre, sondern wirft auch neues Licht auf den deutschen expressionistischen Film im allgemeinen. Im Gegensatz zum berühmten Kollegen Kracauer entdeckt Kaes in den behandelten Klassikern (Caligari, Golem, Nosferatu, Mabuse, Metropolis) nicht nur die Matrix für psychosoziale Problemstellungen, sondern durchaus eine selbstreflexive Haltung der Wienes, Murnaus, Langs und Pabsts ihrer Zeit und ihrem Metier gegenüber. Trotzdem bleibt die kinematographische Ekstatik, wie sie sich im frühen deutschen Film artikulierte, ein einzigartiges Phänomen der Filmgeschichte. Soviel Schwindelgefühl, Pathos, choreographierte Emotion, hypnotisch-spritistische Symbolik und Massenbewegung gab es im europäischen Kino wohl nie (ausgenommen natürlich die heroischen Jahre von 1933 bis 1945).
Morgen gibt es noch einmal die Gelegenheit, sich mit Anton Kaes in lockerem Uni-Rahmen über ein kulturgeschichtlich brisantes Thema auszutauschen. Die Einführung in die deutsche Filmgeschichte ist inbegriffen. Richard Stradner
Auch morgen, 16 Uhr, Jägerstraße 10/11
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