: „Grober Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien“
■ Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer JuristInnen, Carsten Kessel, kritisiert Verstöße bei der Massenabschiebung von Bosniern. Ausländerbehörde wurde ausgeschaltet
taz: Herr Kessel, Sie werfen der Innenverwaltung im Zusammenhang mit der Massenabschiebung von Bosniern am 9./10. Juli mehrere Rechtsverstöße vor.
Carsten Kessel: Die Innenverwaltung hat das ausländerrechtlich vorgesehene Verfahren grob mißachtet. Sie hat die zuständigen Sachbearbeiter der Ausländerbehörde praktisch ausgeschaltet, indem sie sich auf einem so nicht vorgesehenen Weg in den Besitz der Akten gebracht und die Entscheidung an sich gezogen hat. Die Innenverwaltung ist aber laut Gesetz ausschließlich für Widersprüche gegen Entscheidungen der Ausländerbehörde zuständig und hätte gar nicht entscheiden dürfen.
Ist das mit rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar?
Nein. Das Vorgehen läßt vermuten, daß ganz gezielt rechtliche Garantien umgangen werden sollten. Denn es sind noch eine Reihe weiterer Verstöße festzustellen. Die gesetzlichen Anhörungsrechte der Betroffenen sind grob mißachtet worden. Es gibt Fälle, in denen ihnen weniger als ein Tag Zeit eingeräumt worden ist, rechtliche Maßnahmen gegen die Abschiebeverfügung zu ergreifen. Es sind auch Abschiebungen durchgeführt worden, die der höchstrichterlichen Rechtsprechung widersprechen, weil Betroffenen nicht die Gelegenheit gegeben wurde, freiwillig auszureisen.
Gibt es Kritik von Verwaltungsrichtern an dem Vorgehen?
Es sind Stimmen laut geworden, die sich nicht erinnern können, daß in ihrer Amtszeit etwas Vergleichbares vorgekommen ist. Meiner Ansicht nach ist ein Fall solchen Ausmaßes in der Geschichte des bundesdeutschen Rechtsstaats einmalig.
Wer kann die Rechtsverstöße ahnden?
Das große Problem ist, daß die Innenverwaltung als zuständige Aufsichtsbehörde selbst gehandelt hat. Jetzt muß die politische Aufsicht reagieren. Der Senat wird zu besprechen haben, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Insbesondere Innensenator Schönbohm muß sich fragen lassen, ob er dieses Vorgehen decken will. Aus meiner Sicht wäre es unhaltbar, wenn er solche Rechtsbrüche deckt.
Die Innenverwaltung hat weitere Abschiebungen angekündigt. Was fordern Sie?
Die politische Frage ist, ob es derzeit vertretbar ist, Menschen nach Bosnien abzuschieben, deren Existenzmöglichkeiten dort ungewiß sind. Ich persönlich halte das zur Zeit für nicht vertretbar. Was die rechtliche Lage angeht, muß bei Abschiebungen der vorgesehene Weg eingehalten werden.
Was fordern Sie von Ihrer eigenen Partei?
Es muß ganz klar gemacht werden, daß die SPD dieses Vorgehen nicht mitträgt und sich für eine Rückkehr zu einem rechtsstaatlichen Verfahren einsetzt. Interview: Dorothee Winden
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen