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Stille Welten in lauten Kneipen

Der Gehörlose Slawomir Szewczyk arbeitet erfolgreich als Barkeeper. Stammgäste bestellen mit Faust und kleinem Finger ein Jever, mit Zeige- und Mittelfinger ein Herforder. Die Gebärdenspräche wird im Gegensatz zum Lippenablesen immer noch nicht offiziell anerkannt  ■ Von Kirsten Niemann

Mit dem Barkeeper stimmt was nicht. Obwohl der neue Gast mit kräftiger Stimme nach einem Bier verlangt, zeigt der Bursche hinter dem Tresen keine Reaktion. Mit dem Rücken zum Schankraum poliert er in aller Ruhe ein Glas zu Ende, bevor er sich umdreht. Der durstige Gast hätte schreien können, bis zum Stimmbandkollaps – auf den Barkeeper in der Charlottenburger Musikkneipe „Deauville“ hätte das denselben Eindruck gemacht, als wäre in China ein Sack Reis umgekippt. Denn Slawomir Szewczyk ist einer der rund 4.000 BerlinerInnen, die noch nie dem Klang einer menschlichen Stimme gelauscht haben, vom markigen Sound einer Autohupe genervt oder von lautem Hundegebell aufgeschreckt worden sind. Die Gehörlosen in unserer Stadt – eine schweigsame und fast unsichtbare Minderheit.

Als Muttersprache nennt der gebürtige Pole, der mit sechs Jahren nach Berlin zog, die Gebärdensprache. Die haben ihm seine Eltern vermittelt, die ebenfalls hörgeschädigt sind. Zu Hause in seiner Wohnung ersetzen optische Signale die akustischen: Lichtklingel, Schreibtelefon, Faxgerät und ein vibrierender Wecker erleichtern den Alltag: Wenn das Telefon klingelt, gibt ein Lämpchen dreimal drei Blitze ab. Schellt dagegen jemand an der Haustür, blitzt es achtmal kurz hintereinander.

Mit den hörenden Zeitgenossen verständigt der 22jährige sich mit Hilfe ganz einfacher Gebärden oder einem Stift und einem Blatt Papier. Und seine Stammgäste haben ohnehin längst kapiert, daß der Barmann auf ein Handzeichen mit seitwärts ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger ein „Herfi“ (Herforder Pils) bringt, dagegen bei einer Faust mit erhobenem kleinen Finger ein Jever kommt. Zur Not liegt hinter der Theke sogar ein Zettel mit dem Fingeralphabet bereit.

Ob aus Angst davor, von den hörenden Mitmenschen für seltsam gehalten zu werden, oder weil er ohnehin weiß, daß es nicht so flüssig klingt – freiwillig bringt Slawomir kein Wort über die Lippen. Obwohl er in der Schule oral, also in der Lautsprache unterrichtet wurde. „Wir mußten unsere Hände immer hinter den Rücken nehmen“, erklärt er und macht dazu ein Gesicht. „Plaudern“, wie die Gehörlosen ihre Gebärdensprache nennen, durften er und seine Mitschüler lediglich in den Pausen auf dem Schulhof.

So souverän und offen Slawomir sich in der Welt der Hörenden auch bewegt – am wohlsten fühlt er sich in seinem eigenen Mikrokosmos, in der Gesellschaft seiner ebenfalls gehörlosen Freunde, mit denen er freitag abends immer in die Schöneberger Szenebar, das Kumpelnest 3000, zieht. Während das restliche Publikum dort gegen die laute Musik anbrüllt, verläuft die Kommunikation zwischen Slawomir und seinen Freunden „viel schneller und verständlicher“.

Die Gebärdensprache mit ihrem heftigen Fingerfuchteln, der sich mitunter zu Grimassen verzerrenden Mimik und der herausgestreckten Zunge – bei vielen Menschen mit gesundem Hörvermögen weckt das ein peinliches Gefühl. Was einer der Gründe dafür sein mag, daß an vielen Gehörlosenschulen das „Absehen“, das Lippenlesen, immer noch oberstes Gebot ist. Selbst heute noch stemmt sich die Deutsche Gesellschaft für Audiologie mit aller Macht gegen die 1988 im Europäischen Parlament vorgebrachte Resolution, die die europaweite Anerkennung der Gebärdensprache empfiehlt. Das traurige Resultat nach 200 Jahren Gehörlosenbilding: Das lange Zeit als „Affensprache“ abqualifizierte Gebärden ist in Deutschland bis heute nicht offiziell. „Obwohl man dem heute schon viel aufgeschlossener gegenübersteht, gibt es immer noch viele Lehrer, die die Gebärdensprache nicht einmal beherrschen“, entrüstet sich auch Manfred Wloka, Leiter der Ernst-Adolf-Eschke- Schule für Gehörlose in Berlin- Grunewald.

Als Wloka, der als hörendes Kind gehörloser Eltern die Gebärdensprache schon mit der Muttermilch aufnahm, im Jahr 1976 die ersten Gebärdenkurse für Eltern hörgeschädigter Kinder einführte, war das direkt eine kleine Revolution. Denn egal, wie hart die Kinder auch sprechen üben – „bei Gehörlosen wird die deutsche Sprache immer unvollkommen bleiben“. Dabei bereitet nicht nur die Artikulation Probleme. Die natürliche Sprachentwicklung des Kindes setze nun mal allein durch ständiges Hören ein. Einzelne Worte, Grammatik, die Syntax – für Menschen, die nichts hören, bleibt das alles theoretisches Konstrukt. „Inhalte lassen sich eben nicht erlesen“, erklärt der Schulleiter. Kein Wunder also, daß die meisten Gehörlosen auch mit der Schriftsprache massive Probleme haben und, so Wloka, „kaum etwas anderes lesen als die Bild-Zeitung“.

Selbst Hörende lernen eine Fremdsprache nur vor dem Hintergrund einer Muttersprache. Die Tatsache, daß über 85 Prozent aller Gehörlosen bei hörenden Eltern aufwachsen, birgt ein zusätzliches Problem. „Im Gegensatz zu denen vermitteln die gehörlosen Eltern ihren Kindern wenigstens als Erstsprache das Gebärden. Die anderen Kinder sind vollkommen hilflos, wenn sie mit drei Jahren zu uns kommen.“ Alleine, um den im Unterricht behandelten Stoff zu kontrollieren, hält Wloka das Gebärden für unersetzlich. Zumal ein Gehörloser nur ein Drittel aller gesprochenen Laute durch Ablesen deuten kann. Die Bedeutung von Begriffen mit gleichem Mundbild, wie „rot“, „Brot“ oder „Not“, erschließt sich ihm lediglich durch den Zusammenhang. Wloka: „Man muß einem Gehörlosen das Gesprächsthema klar vorgeben, sonst hat er keine Chance.“

In den USA ist die Gebärdensprache schon seit über 20 Jahren anerkannt: Wenn der Präsident im Fernsehen eine Rede hält, dann wird sie selbstverständlich für die stumme Minderheit des Landes in Gebärden übersetzt. Auch das Studieren fällt dort leichter; die Universität von Washington D.C. stellt ihren gehörlosen Studenten Gebärdendolmetscher zur Verfügung. In Deutschland endet die schulische Laufbahn meistens mit dem Hauptschulabschluß. Typische Berufe: Maler, Schneider oder Technischer Zeichner; handwerkliche Tätigkeiten, abseits von der Welt der Hörenden.

„Wenn ein Gehörloser es schafft zu studieren, dann muß er doppelt so intelligent sein wie ein Hörender“, weiß Bärbel Fiedler, Vorsitzende der Gesellschaft zur Förderung Gehörloser in Berlin. Allein für sein Fachabitur mußte Barkeeper Slawomir Szewczyk bis nach Essen ziehen – es ist immer noch die einzige Schule bundesweit, an der Gehörlose die Hochschulreife erwerben können. Theoretisch können sie zwar anschließend an jeder x-beliebigen Universität studieren. Doch in der Praxis gibt es jede Menge Hürden: Um Mitschreib-Hilfen und Dolmetscher muß sich der gehörlose Student selbst kümmern. Das Hauptproblem sind zuwenig ausgebildete Gebärdendolmetscher. „Die meisten geben höchstens 20 Stunden im Monat, ich brauche mehr“, erklärt Slawomir, der später gerne Diplom-Informatiker werden möchte. Und das ist teuer. Also quält er sich durch einen zähen Papierkrieg und endlose Behördengänge.

Ob Studieren, Behördengänge, Arztbesuche oder einfach nur die Freizeitgestaltung: „Für Gehörlose ist das Leben ungleich anstrengender“, erklärt Bärbel Fiedler. „Am liebsten sind sie unter ihresgleichen und organisieren sich in Gruppen und Vereinen.“ Vom Wanderverein für Gehörlose, einem Skat- und Schachtverein bis zum „Allgemeinen Taubstummen Unterstützungsverein“ und einer regelmäßigen Tupperware-Party – über 30 Vereinigungen mit diversen Untergruppierungen kommen in dem Gehörlosenzentrum an der Friedrichstraße zusammen. Bärbel Fiedler, nach über 30 Jahren der Beschäftigung im Gehörlosenbereich immer noch „fasziniert von der stillen Welt“, betont schließlich immer wieder, daß Gehörlose keineswegs nur bedauernswerte Geschöpfe seien. „Im Grunde genommen sind sie sehr fröhliche Menschen, die gerne rausgehen und verreisen. Denn im Gegensatz zu uns verstehen sie die Leute im Ausland auch nicht schlechter als zu Hause.“

Der Gehörlose als Ausländer im eigenen Land: Wenn Slawomir Szewczyk ins Kino geht, dann muß er sich eben die Filme im Original mit Untertiteln anschauen. In der Regel kein Problem. Auch in seinem Job als Barkeeper erlebt er nur selten ein Malheur. „Höchstens, wenn ein Gast betrunken ist: Nach 15 Bieren kann ich nichts mehr von seinen Lippen ablesen, und er kann dann nicht mehr schreiben.“ Dennoch, erklärt Slawomir mit einem verschmitzten Lächeln, er wollte immer schon Barkeeper sein. Ein Job, der ihn fasziniert, gerade „weil ich gehörlos bin“.

Wenn Slawomir seinen Tresendienst schiebt, läuft das Ordern von Getränken eben nach subtileren Regeln als dem üblichen, lautstarken Zuruf. „Manche Leute versuchen es erst mit Englisch“, die Chefin schmunzelt über so manche Reaktion der Gäste. „Und andere fangen automatisch an zu brüllen, auch wenn sie wissen, daß Slawomir nicht hören kann.“ Manche vergessen auch einfach, daß er gehörlos ist, und bitten ihn trotzdem, ein Taxi zu rufen. Wieder andere merken indes: Hier bin ich es, der aufmerksam sein muß. Man muß sich eben mal etwas einfallen lassen, um bemerkt zu werden. Schließlich gibt es da etwas, das treibt selbst die Gehörlosen-Funktionärin Bärbel Fiedler nach 30 Jahren noch bis zur Weißglut: „Wenn ein Gehörloser einen nicht anschaut, während man mit ihm redet – dann ist man aufgeschmissen!“

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