Piratenangriff am Galibier

■ Marco Pantani holt sich auf der 15. Etappe der Tour de France das Gelbe Trikot von einem entkräfteten Jan Ullrich, der noch hinter dem Texaner Bobby Julich auf Rang drei zurückfällt

Berlin (taz) – Marco Pantani, den Italien Medien wegen seines Kopftuches „Il Pirata“ nennen, war auch gestern auf der 15. Etappe der Tour de France in den Alpen nicht aufzuhalten. Am 2.645 m hohen Galibier fuhr der Italiener der Gruppe um Spitzenreiter Jan Ullrich davon, beim letzten Anstieg nach Les Deux Alpes hängte er auch die restlichen Fahrer ab, die bis dahin noch mithalten konnten. Im Ziel durfte er sich das Gelbe Trikot anziehen, seinen Rückstand von 3:01 Minuten auf Ullrich hatte er in einen Vorsprung von 5:56 Minuten gegenüber dem Deutschen verwandelt, der auf dem Weg nach Les Deux Alpes total einbrach. Ein Defekt kurz vor dem Anstieg raubte ihm die letzte Moral, danach wurde er von Fahrern überholt, die längst distanziert schienen, und auch die Hilfe von Bjarne Riis und Udo Bölts, die zu ihm aufschließen konnten, vermochte das Debakel kaum in Grenzen zu halten. Am Ende lag nicht nur Etappensieger Pantani, der ein viel schwächerer Zeitfahrer ist, in der Gesamtwertung vor dem 24jährigen Deutschen, sondern auch der US-Amerikaner Bobby Julich, der beim Rennen gegen die Uhr ähnlich schnell unterwegs ist wie Jan Ullrich.

„Ich hoffe, es wird ein großer Kampf in den Alpen“, hatte der 27jährige Texaner gesagt, der bereits in den Pyrenäen wie ein Schatten an Ullrich gehangen hatte und der Führung bei der Tour so nahe kam, wie kein US- Radfahrer seit Greg LeMond. Daß er sie tatsächlich an sich reißen könnte, mochte er nicht glauben. Im letzten Jahr war er 17. bei der Tour, dieses Jahr hatte er sich im Vorfeld einen Rang unter den ersten Zehn ausgerechnet. „Nach der ersten Woche dachte ich, okay, vielleicht die ersten fünfzehn“, erzählt er, „nun sehe ich mich in Paris unter den ersten Drei.“

Entscheidende Bedeutung kommt nach der heutigen schweren Etappe über weitere Alpengipfel dem Zeitfahren des vorletzten Tourtages am Sonnabend zu. Beim ersten Rennen gegen die Uhr, das Jan Ullrich in Corrèze gewann, war Julich Dritter und Pantani hatte mehr als vier Minuten Rückstand. Daß ein Gelbes Trikot jedoch ähnliche Flügel verleihen kann wie eine ordentliche Ladung EPO, ist altbekannt, und selbst einem starken Zeitfahrer wie Ullrich dürfte es kaum gelingen, dem Italiener einen Vorsprung von fünf oder mehr Minuten abzujagen. Zu fürchten hat Pantani eher den Mann aus Texas, Bobby Julich, der seit gestern nur 2:53 Rückstand zum 28jährigen Italiener hat.

Keine schlechte Perspektive für einen, der 1992 mit dem Radsport aufhören wollte, als er nicht für die Olympischen Spiele in Barcelona nominiert wurde. „Alle meine Pläne, in Barcelona anzutreten, in Europa zu bleiben und einen Profivertrag anzustreben, gingen zu Bruch, und ich wußte nicht, was ich mit meinen Leben anfangen sollte“, erinnert sich Julich an diese Phase. Er nahm zehn Kilo zu und verbrachte seine Zeit nur noch mit dem Anschauen von Seifenopern im Fernsehen, bis ihn seine Freundin zur Räson brachte. 1994 fuhr er für ein Team in Los Angeles, ein Jahr später bekam er einen „erschreckend schlecht bezahlten“ Vertrag bei Motorola in Europa, wo er für seinen Landsmann Lance Armstrong schuftete. Ein neunter Platz bei der Spanien-Rundfahrt brachte ihm seinen aktuellen Vertrag mit Cofidis ein. Ein Angebot von Telekom lehnte er vor der Saison ab, weil er sich zu schade war, Hilfsdienste für Ullrich zu leisten. Die Wasserträgerzeiten des Bobby Julich sind definitiv vorbei. Matti Lieske