: Dem Sensenmann die Tür geöffnet
Eine junge Krankenschwester in einem Pariser Hospital hat 30 schwerkranken Patienten Sterbehilfe geleistet – im besten Glauben. Jetzt ist in Frankreich die Diskussion über „Euthanasie“ wieder aufgeflammt ■ Aus Paris Dorothea Hahn
30 Schwerkranken hat eine französische Krankenschwester binnen eineinhalb Dienstjahren auf der Intensivstation eines Krankenhauses in der Pariser Banlieue Sterbehilfe geleistet. Seit das Ende vergangener Woche bekannt wurden, diskutiert Frankreich über das Tabu der „Euthanasie“. Von den 30 Toten oder einer Schuld der jungen Frau, die sich nun wegen Totschlags vor Gericht verantworten muß, spricht niemand.
Als hätte er bloß auf ein Startsignal gewartet, um die Diskussion zu eröffnen, reagierte Gesundheitsstaatssekretär Bernard Kouchner in Windeseile. Er warnte vor „voreiligen moralischen Urteilen“, zeigte „Mitleid“ mit der jungen Frau und hoffte, daß „die Affäre zum Nachdenken anregt“. Bei seinen Treffen mit europäischen GesundheitsministerInnen will er festgestellt haben, daß Frankreich einen „mindestens zehnjährigen Rückstand“ in dieser Frage habe. Sein Parteifreund aus der sozialistischen PRS, Roger- Gérard Schwartzenberg, ging noch weiter. Er zog gestern einen Gesetzentwurf aus der Tasche, der Regeln für die Sterbehilfe aufstellt.
Für eine „längst überfällige Diskussion“ und gesetzliche Regelungen über die Sterbehilfe sprachen sich seit dem Wochenende auch PolitikerInnen fast aller anderen Parteien aus. Selbst auf den Intensivstationen französischer Krankenhäuser soll es – laut Berichten französischer Medien – Verständnisäußerungen für die junge Krankenschwester gegeben haben. Einzig ein Sprecher der katholischen Kirche stemmte sich gegen den Mainstream. Hilfsbischof André Vingt-Trois bemühmte zu diesem Zweck erartungsgemäß die Bibel, die den Angriff auf eigenes wie fremdes Leben untersagt.
Wie es zu der Todesserie im Krankenhaus von Mantes-la-Jolie westlich von Paris kommen konnte, ohne daß andere MitarbeiterInnen aufmerksam wurden, ist völlig unklar. Auch die Technik, mit der die 28jährige Krankenschwester das Leben ihrer PatientInnen verkürzte, wurde nicht veröffentlicht. Nachdem die Krankenhausleitung sie im Mai dieses Jahres mit dem Verdacht konfrontierte, machte die junge Frau einen Selbstmordversuch. Seither ist sie in psychiatrischer Behandlung.
Nach Polizeiangaben hat die Krankenschwester „auf Anfrage der Familien“ oder „auf Wunsch der Kranken selbst“ und manchmal „aus eigener Entscheidung“ gehandelt. In den Verhören hat sie nach Justizangaben „ehrliches und echtes Mitleid“ mit ihren PatientInnen als Grund vorgebracht. Sie soll sich weder bereichert haben noch einer der Vereinigungen angehören, die das Recht auf Sterbehilfe proklamieren.
Der Begriff der „Euthanasie“ ist seit Ende vergangener Woche in aller Munde. MedizinerInnen und KrankenpflegerInnen berichten nun plötzlich davon, wie sehr sie mit schwerkranken PatientInnen alleingelassen sind. „In der Endphase verlangen zwar viele Familienangehörige, daß wir mehr Schmerzmittel einsetzen, aber wenn sie erfahren, daß das auch das Leben verkürzt, ziehen sie sich wieder zurück“, berichtet eine Krankenschwester. Kolleginnen von ihr beschreiben zwei ÄrztInnentypen im Umgang mit PatientInnen in der „finalen Phase“: Solche, die stur auf Lebensverlängerung um jeden Preis setzen, und solche, die bereit sind, über Schmerzlinderung und passive Sterbehilfe nachzudenken.
Das französische Gesetz allerdings kennt weder den Begriff der „Sterbehilfe“ noch der „Euthanasie“, sondern im Falle einer juristischen Verfolgung bloß „Totschlag“ und „Mord“. ÄrztInnen und PflegerInnen, die Sterbehilfe praktizieren, stehen also grundsätzlich mit einem Bein im Gefängnis. Dennoch ist die passive Sterbehilfe in Frankreich längst Alltag. Nach einer im März diese Jahres veröffentlichten Studie des Klinikchefs Edouard Ferrand geht jeder zweite Todesfall auf den Intensivstationen der französischen Krankenhäuser auf eine Entscheidung zurück, „die Behandlung zu begrenzen oder zu beenden“.
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