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Kapitalismus mit Luschkows Gesicht

■ Der Oberbürgermeister von Moskau gründet eine neue Parteienkoalition. Sie versteht sich als patriotisch und oppositionell

Moskau (taz) – „In meine Mütze ist ein Computer einmontiert. Der Schirm funktioniert als Akku-Block und der Nippel obendrauf als Antenne.“ So antwortete kürzlich Moskaus Oberbürgermeister Juri Michailowitsch Luschkow (62) auf die Frage, wie er es schaffe, seine zahlreichen Aktivitäten unter einen Hut zu bringen. In der politisch sonst wenig aktiven Sommerzeit hat Luschkow es nun offenbar auch noch geschafft, eine breite Oppositionskoalition unter dem schattenspendenden Schirm seiner Mütze zu verstauen. Vorläufig tut er aber so, als habe er mit dem sich herausbildenden Block nichts zu tun.

Die etwa zehn Liliput-Vereinigungen, die sich Ende letzter Woche hinter verschlossenen Türen in der Duma trafen, um eine politische Aktionsgemeinschaft zu bilden, bezeichnen sich selbst als patriotisch-oppositionelle Parteien. Mit anderen Worten: Sie alle befinden sich in Opposition zur heutigen Regierung, aber mit den Kommunisten wollen sie auch nichts mehr zu tun haben. KP-Chef Gennadi Sjuganow und seine Partei wurden auf dem Treffen als „Renegaten“ beschimpft. Man warf ihnen vor, sie seien „radikal in ihren Worten, aber opportunistisch in ihren Taten“. Besonders nötig hatten eine solche Distanzierung unter den Teilnehmern offenbar einige Ex-Radikalkommunisten, wie der auch im Westen bekannte Sergej Barburin, dessen politische Vereinigung „Allvölkischer russischer Bund“ sich ROS abkürzt – im Gleichklang mit dem Wort Rossija.

Andere der kleinen Parteien heißen „Großmacht“ oder „Dritte Kraft“, aber auch die „Sozialdemokratische Assoziation“ gehört dazu. Besonders fiel die Teilnahme General Andrej Nikolajews auf. Der ehemalige Chef der Grenztruppen gilt als Mann mit reiner Weste. Als einziger Machtminister schaffte er es, die ihm unterstehenden Einheiten von Grund auf zu modernisieren und seinen Soldaten stets pünktlich den Sold auszuzahlen. Nikolajew wurde im Frühjahr von Präsident Boris Jelzin entlassen, weil er in seinem Kampf gegen den Wodkaschmuggel an der georgischen Grenze dem georgischen Präsidenten Eduard Schewardnadse ein Dorn im Auge geworden war. Anschließend kandidierte der Ex-General für einen Duma-Sitz bei einer Nachwahl in Moskau und siegte dort haushoch – mit Hilfe einiger kräftiger Finanzspritzen des Stadtvaters für seinen Wahlkampf.

„Das Märchen über Luschkow, das man uns in einem Jahr erzählen wird, kennen wir schon heute“, schrieb die Zeitung Iswestija angesichts der neuen Koalition: „Vor zehn Jahren zerfiel das alte, schlechte, aber uns doch so vertraute kommunistische System. An seine Stelle trat der neue, wie der ganze Westen wilde, und ganz und gar nicht liebe Markt à la Jegor Gajdar. Das sind zwei Extreme. Nun müssen wir die goldene Mitte finden. Der Markt auf russisch, das ist ein Kapitalismus mit russischem, menschlichem Gesicht. Mit dem Gesicht Juri Luschkows.“

Der in sein Amt letztes Mal mit 90 Prozent aller Stimmen wiedergewählte Oberbürgermeister ist tatsächlich ein geschickter Wirtschaftsmanager. Wenn er auch die für die glänzende Hauptstadtfassade benötigten Gelder nicht immer auf marktwirtschaftliche Weise gewinnt. So sahnt er regelmäßig große Summen aus dem Finanzausgleich der Russischen Föderation ab. Durch gemeinsame Meetings und Aktionen wollen die geläuterten Patrioten nun bis zu den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 ihren Kandidaten soweit stärken, daß er die Anhänger des Kommunisten Sjuganow, der bei landesweiten Umfragen noch immer bei 20 Prozent liegt, auf die eigene Person einschwören kann. Die vielen kleinen Napoleone der neuen Koalition können sich dabei eine gute Chance ausrechnen, wenn sie sich einig bleiben. Aber wie sagt doch das russische Sprichwort: Zwei gleichgefiederten Vögeln ist auch eine Bärenhöhle als gemeinsames Nest zu eng. Barbara Kerneck

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