: Die politische Zukunft der Roma
■ Der rasante wirtschaftliche Wandel in den ost- und mitteleuropäischen Ländern seit 1989 hat die soziale Lage der Roma verändert. Geringe Sicherheiten sind ins Wanken geraten. Erst langsam beginnen die Roma, institutionelle Ansprüche zu formulieren und ihre Rechte zu organisieren. In den Ländern, in denen sie leben, lernt man nur langsam, daß die Zukunft der Roma eng mit dem sozialen System der jeweiligen Gesellschaft verbunden ist. Von der Politik, Kultur und der Sprache der Roma handelt dieses Dosser „Index on Censorship“.
In der Sendung „Polizeinachrichten“ erschien im ungarischen Fernsehen das geschwollene Gesicht einer Leiche auf dem Bildschirm. Der Sprecher bat die Zuschauer um Hilfe bei der Identifikation des Toten, der aus der Donau gefischt worden war. Es war das Gesicht eines Rom, und ich fragte mich, ob der Ertrunkene Opfer eines Streits unter Betrunkenen oder wegen seiner Hautfarbe umgebracht worden war. Vor zehn Jahren wäre mir diese Frage nicht einmal in den Sinn gekommen, so weit hergeholt wäre mir ein rassistisches Motiv erschienen. Inzwischen sind jedoch Geschichten von Gewalt durch einzelne oder Gruppen, von Polizeibrutalität und Diskriminierung am Arbeitsplatz nur allzu normal geworden. Was ist passiert?
Der Fall der Berliner Mauer wird als größtes politisches Ereignis der letzten Jahre dieses Jahrhunderts angesehen, ein Ereignis, das den Völkern der ehemaligen Diktaturen Demokratie und politische Freiheit gebracht hat. Gleichzeitig hat es jedoch auch ihre materielle Sicherheit zerstört, selbst wenn die nur auf sehr niedriger Ebene existiert hatte. Die wirtschaftliche Umstrukturierung von Mittel- und Osteuropa hat die Roma hart getroffen.
In den denkwürdigen Tagen des vierzig Jahre währenden Sozialismus sind die Roma Mittel- und Osteuropas, die schon lange nicht mehr von einem Ort zum anderen zogen, gewaltsam in die Volkswirtschaft integriert worden, und zwar auf niedrigstem Niveau ungelernter und schlecht bezahlter Arbeit. Begleitet war diese Entwicklung von einem hohen Grad kultureller Anpassung, die zu einem radikalen Wandel im Leben und Arbeitsleben der Roma führte: Abnahme des Analphabetentums, moderne Wohnungen, Gesundheits- und soziale Fürsorge waren Alltag geworden. Die Garantie eines regelmäßigen monatlichen Einkommens, bis dahin ein Zustand undenkbarer materieller Sicherheit, war der deutlichste Wandel und hat zum Bruch mit jahrhundertealten Traditionen und Gewohnheiten geführt.
Bei den ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Krise wurden die Roma aus ihren Arbeitsplätzen jedoch wieder verdrängt. Nun arbeitslos fielen sie zurück in den nur zu bekannten Zustand von Marginalisierung und Ausschluß. Nur eine kleine Gruppe von Geschäftsleuten konnte sich auf dem neuen Markt der Möglichkeiten behaupten.
Die neue Auswanderungswelle nach Kanada und Westeuropa, besonders tschechischer und slowakischer Roma, die vor der Verfolgung fliehen und um Asyl nachkommen, war nichts anderes als die Sichtbarmachung dessen, was sich bei ihnen zu Hause abspielte. Westliche Regierungen, deren eigene Roma meist nicht mehr als 0,01 Prozent der Landesbevölkerung ausmachen, behandelten diesen Zufluß von Menschen in der Regel als Einwanderungsproblem. Im Osten, wo sie fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung bilden – drei Viertel der europäischen Roma- Bevölkerung – werden sie als grenzübergreifendes soziales Problem wahrgenommen. Hebt man das Ganze auf die Ebene der Menschenrechte, so ist der Unterschied zwischen den alten und den neuen Demokratien gering. In beiden Gesellschaften wird der Diskurs über die Roma von Stereotyp und Vorurteil dominiert, die sich gelegentlich in Gewaltakten Ausdruck verschaffen.
Roma leben überall in Europa. Sie sind die größte Minderheit, und manche sagen, die einzig wirkliche europäische Gemeinschaft. Trotzdem sie durch unterschiedliche Geschichte, Dialekte, Grad der Integration in die Mehrheitsgesellschaften und teilweise durch beträchtliche Distanz innerhalb verschiedener Gruppierungen getrennt sind, hat die von ihnen allen erfahrene Diskriminierung sie doch zu einer Art Gemeinschaft und gemeinsamen Identität finden lassen.
Diese „negative Identität“ wird ausgeglichen durch die Stärke und Solidarität der entscheidenden sozialen Einheit, der Großfamilie. Von den Roma als einer monolitischen Gruppe oder Kultur zu sprechen, ist eigentlich absurd – und dennoch ist es aufgrund von hartnäckigen negativen Stereotypisierungen, von Animosität und Gewalt, nicht nur möglich, sondern sogar notwendig, sie als einheitliche Ethnie, als deutlich herausgehobene Minderheit zu betrachten.
Ihre gemeinsamen kulturellen und religiösen Wurzeln, das gemeinsame Schicksal der Verfolgung und des Genozids durch die Nazis und die Kontinuität des Ausgeschlossenseins ließ ihre Sprecher die Idee einer nichtterritorialen Nationalität entwickeln; eine so verstandene Nationalität könnte immerhin als Mittel zur Konstruktion einer gemeinsamen Identität und als Fundament zur Verteidigung ihrer Rechte dienen. Dieser Ethnonationalismus ist – mit allen Pros und Contras – als Vehikel für Zusammenhalt, Mobilisierung und Bewußtseinsbildung der politisch aktiven Bevölkerung wichtig geworden.
Das Jahr 1989 bedeutete für die politische Führung der Roma auf dem Balkan und in Mittel- und Osteuropa, daß auch sie ihre eigenen Bürgerorganisationen gründen konnten. Verfassungen, in denen bisher von ethnischer Identität nicht die Rede war, wurden umgeschrieben und die Existenz nationaler und ethnischer Minderheiten anerkannt. Das ergab die Voraussetzungen für die Gründung Hunderter von Organisationen: politische Parteien der Roma erschienen auf der Bildfläche, es gab Roma als Parlamentsmitglieder, sogar gewählte Selbstverwaltungen sind entstanden. Das erste Mal in der Geschichte präsentierten sich Bürgerorganisationen der Roma auf der politischen Bühne ihrer Länder, und man bekannte sich öffentlich zu seiner ethnischen Identität.
Die wichtigste Diskussion unter den politischen Sprechern der Roma konzentriert sich auf die Frage, was „Nationalität“ tatsächlich meint in bezug auf Institutionen, Gesetze und Status für die Roma innerhalb der Grenzen ihrer Gastländer. Es gibt in der Hauptsache zwei verschiedene Herangehensweisen. Die eine geht von der Prämisse der Bürgerrechte aus, die andere von einem Minderheitenschutz.
Der Bürgerrechtsansatz argumentiert für die Verbesserung der Menschenrechtssituation in der Gesellschaft schlechthin, so daß die Roma ihren rechtmäßigen Platz in einem liberalen, demokratischen Staat einnehmen können. Diese Position dominiert, wo die Roma langzeitige und seßhafte Bewohner sind und auch als zu einem hohen Grad in die Gastgesellschaft integriert gelten können.
Andere sehen diesen Ansatz als versteckte Assimilation und befürworten den Minderheitenschutz. Für ihre Position wird auf zweierlei Ebenen argumentiert: Zum einen geht man davon aus, daß die Roma nur eine von vielen Minderheiten eines Landes sind und daher gemeinsam mit anderen Minderheiten in den Genuß dieser Rechte kämen. Andere betonen mehr den einzigartigen, nicht territorial gebundenen Charakter der Romaminderheit als Unterschied zu allen anderen nationalen Minoritäten.
Aus dieser Auffassung stammt die Forderung nach einem besonderen gesamteuropäischen Status der Roma, der ihnen Anerkennung und Schutz gewährt. Dieses Argument ist besonders relevant für die erst kürzlich nach Westeuropa Ausgewanderten, die ihren zukünftigen Status als den aller Bürger der Europäischen Union antizipieren.
Da die Romabewegung zu einer Zeit politischer und ökonomischer Umwandlungen im gesamten Mittel- und Osteuropa entstanden ist, hat sie auch mit ganz besonderen Problemen zu kämpfen. Trotz der vielen kulturellen und historischen Unterschiede ist ein Vergleich mit der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den USA der sechziger Jahre nicht uninteressant. Ausbildungsstipendien für ehemalige Soldaten, die von den Kriegsschauplätzen des Zweiten Weltkrieges heimkehrten, ermöglichten die Herausbildung einer starken intellektuellen Führungsschicht gebildeter Schwarzer. Zusätzlich wurden sie unterstützt von Liberalen im Norden und von den Kirchen. Die neue Romabewegung hat nichts dergleichen aufzuweisen.
Vielmehr mangelt es der Romaelite, die sich unter diktatorischen Regimen formte, selbst an demokratischen Standards. Und da die demokratische Opposition in diesen Ländern, die zuvor durchaus ein Bündnispartner der Roma gewesen war, von den neuen Regierungen nach 1989 schnell aufgesogen wurde, verloren sie ihre Unterstützer in der Mehrheitsgesellschaft. Alliierte der Roma kann man an den Fingern einer Hand abzählen. Die Entwicklung einer Romabürgerbewegung ist ebenfalls erschwert durch die hohe Arbeitslosigkeit und weitverbreitete Armut der meisten Roma. Apathie und Resignation sind die Folge, der Kampf für bessere Lebenschancen bleibt stecken.
Die Mehrzahl der frühen nichtstaatlichen Romaorganisationen mobilisierten ihre Anhänger im Kontext von Themen wie Kultur, Bildung und Tradition; der Aufruf zur Erkämpfung bürgerlicher Rechte und politischer Beteiligung folgte. Gleichzeitig schuf man Pläne zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, vor allem um die Armut der Roma lindern zu helfen. Aktivisten und Sprecher begriffen, daß ohne einen angemessenen Lebensstandard die Entwicklung der Gemeinschaft insgesamt unmöglich war, wie eben auch ein moderater Wohlstand ohne Menschenrechte wenig praktikabel ist. Die neuen Strategien haben zunehmend wirtschaftliche mit bürgerrechtlichen Zielvorstellungen verknüpft.
Wird sich beispielsweise die Schere im Arbeitsmarkt weiter öffnen in dem Maße, wie Produktion und Dienstleistung immer höher qualifizierte Arbeitskräfte verlangen? Was passiert, wenn der Einfluß der rechten Parteien weiter zunimmt und Gewalt und Ausschluß immer größere Ausmaße annehmen? Ist Assimilation die Antwort – oder Integration? Wie wird die Schicht der städtischen arbeitslosen Romajugendlichen mit ihrer wachsenden Frustration umgehen? Muß das Los-Angeles-Syndrom eine echte Sorge sein? Welche Bildungsstrategien sind angemessen für Romakinder, wenn ihre Arbeitschancen nicht nur ständig geringer werden, sondern auch ihren Charakter völlig verändern? Ist die Wiederbelebung der im Verschwinden begriffenen traditionellen Handwerke der Roma eine Alternative? Und welche Antwort finden wir auf den nur in Dritte-Welt-Kategorien zu fassenden Geburtenüberschuß? Und so weiter.
Statt den Propheten zu spielen, möchte ich lieber eine Angst und eine Hoffnung zum Ausdruck bringen. Eine pessimistische Interpretation der Ereignisse rechtfertigt sich aus der gesellschaftspolitischen Instabilität und Kontinuität von Intoleranz und Gewalt, wie sie in dieser Region im letzten Jahrzehnt zum Ausdruck gekommen ist. Im bulgarischen Lom hat eine Gruppe von Roma beispielsweise als letzten Akt des Protests – nach monatelanger Zurückhaltung ihres Sozialgeldes durch das Bürgermeisteramt – sich selbst angezündet. Extreme Aktionen dieser Art, die im Moment noch gegen sie selbst gerichtet sind, könnten durchaus in Aggressionen gegen Nichtroma gewendet werden – was bislang noch kein Charakteristikum des Romawiderstands war.
Aber in der Tschechischen Republik ist ein Politiker der extremen Rechten, der mit rassistischen Anti-Roma-Sprüchen durchs Land zieht, auf einer seiner Veranstaltungen bereits physisch von Roma angegriffen worden. Die Zunahme ähnlicher Aktionen in einer Region, in der ethnische Identität ohnehin ein explosives Thema ist, muß als ernste Bedrohung erscheinen.
Eine positivere Entwicklung hängt davon ab, ob den Roma eine soziale und politische Rolle in der Gesellschaft gegeben wird, wie sie ihrem Bevölkerungsanteil entspricht: sie nämlich zu einem wirklichen Verhandlungspartner im Entscheidungsprozeß eines demokratisch verfaßten Staates zu machen. Dies könnte in mehreren Richtungen geschehen. Zum einen ist die Konsolidierung der Romagemeinschaften selbst an den Wurzeln durch ihre Organisationen nötig. Sie würden zu legitimen und authentischen Repräsentanten der Gemeinschaft werden und in einen Dialog mit lokalen, regionalen und nationalen Institutionen treten können.
Dies würde vor allem von der politischen Führung der Roma einiges verlangen: Sie müßten sich auf eine Demokratisierung ihrer eigenen Organisationen einlassen, divergierende Meinungen innerhalb der Gemeinschaft anerkennen und sich zur Entwicklung eines ernsthaften internen Dialogs verpflichten. Das würde nicht nur zu einem besser entwickelten Identitätsgefühl führen, sondern auch zu einer gebildeten Schicht und intellektueller Führung, die in der Lage wäre, die verschiedenen Interessen der Gemeinschaft zu repräsentieren. Eine gemeinsame Strategie, die sich auf die Hauptprobleme aller Roma konzentriert – Armut, Menschenrecht und Bildung –, könnte zum Konsens aller heutigen und zukünftigen Roma-Aktivisten werden.
Veränderungen an den Spitzen der Gesellschaften sind unabdingbar. Regierungen, die etwas für die Roma getan haben, sind in dieser Region kaum vorhanden, und politische Parteien zeigen wenig Interesse an ihrer Unterstützung, und zwar ganz einfach deshalb, weil der Zugewinn einer Roma-Wahlstimme sie mindestens eine Wahlstimme aus der Mehrheitsbevölkerung kosten würde. Da jedoch die Winde, die von Westen wehen, Menschenrechtsfragen und Minderheitenschutz mit sich tragen, habe einige Regierungen doch verstanden, daß sie wenigstens formal auf Europa hören müssen, wenn sie ein Teil seiner politischen Struktur werden wollen.
Um schöne Worte in Taten zu verwandeln, braucht es sowohl den Druck von unten, der Bürgerrechtsbewegung der Roma, als auch von oben, das heißt der Europäischen Union. Immerhin begreifen einige in den entsprechenden Regierungen bereits, daß das staatliche Versagen gegenüber den gewaltsamen Übergriffen auf die Roma den gesamten Demokratisierungsprozeß ihrer Gesellschaften gefährden könnte.
Die Regierungen müssen begreifen, daß die Zukunft der Roma eng verknüpft ist mit der Zukunft ihrer eigenen Gesellschaften. Insofern liegt die Beschäftigung mit den Sorgen der Roma in ihrem eigenen Interesse ist. Andras Biro
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