Zu Hause im Freilichtmuseum

Einst Künstlerenklave im Potsdamer Zentrum, wälzen sich längst Touristenströme durch das Holländische Viertel. Daß hier Menschen wohnen, registriert kaum einer  ■ Von Tanja Fiedler

Schon am Hauptbahnhof von Potsdam sieht man die ersten Schilder, die den Weg Richtung Holländisches Viertel weisen. Zehn Minuten und ein paar Straßenbahnstationen später sind die ersten der unverputzten roten Backsteinhäuser mit den weißen Fugen und grünweißen Fensterläden zu sehen. Ein Stück Exotik inmitten der gesichtslosen Ladenstraßen und Miniaturplattenbauten der Potsdamer City. Selbst an heißen Julinachmittagen schieben sich Touristengruppen an den Fassaden vorbei. Blicken in Höfe und Geschäfte. Machen Rast unter dem Schatten der Bäume. Längst ist das Holländische Viertel vor allem ein rund um die Uhr geöffnetes Freilichtmuseum. Glaubt man den Imageplanern der Stadt, liegt zwischen Kurfürstenstraße und Gutenbergstraße das ideale Areal für alle kamerabewehrten Insassen der Reisebusse, die nach Sanssouci nun neues Futter für den Dia- Abend daheim benötigen.

Daß hier trotz des alltäglichen Rummels noch Menschen wohnen, die sich eingerichtet haben zwischen preußischer Geschichte und der Zukunft des Viertels als schick sanierter Besichtigungsmeile, registriert kaum jemand.

Bernhard Wölz ist einer von denen, für die das Viertel Heimat ist und nicht nur Attraktion. Seit 1987 lebt und arbeitet der Geigenbaumeister in der Benkertstraße. Vom Pflaster vor seinen Erdgeschoßfenstern aus kann man in seine kleine Werkstatt blicken, in der er mit Können und Leidenschaft für Berufsmusiker und Laien seine Geigen, Bratschen und Celli in Handarbeit anfertigt und repariert. An manchen Tagen fühlt er sich jedoch wie ein rares Ausstellungsstück, dann wenn sich Touristen die Klinke in die Hand geben und aus seinen Räumen ein Handwerksmuseum machen wollen.

Vielleicht suchen sie bei ihm, zwischen dem Holz und den Gerüchen des Ateliers, ein wenig Authentizität. Denn es waren vor allem niederländische Instrumentenbauer, Maler und Kupferstecher, Hofmusiker, Bildhauer und Kunsttischler, die als erste Mieter mit ihren Familien die vier Karrees nach ihrer Fertigstellung im 18. Jahrhundert bezogen. Friedrich Wilhelm I. ließ die ersten der Reihenhauszeilen nach Amsterdamer Vorbildern errichten. Sein Werk vollendete dann Friedrich der Große 1790. Im Parterre befanden sich die Ateliers und Läden, im darüberliegenden Stockwerk und unter dem Giebel wurde gelebt und geschlafen. Daran hat sich auch heute nichts geändert. Bernhard Wölz muß nach Feierabend nur ein paar Treppenstufen überwinden, schon steht er im Eingang seiner Wohnung. Drei Zimmer, verteilt auf rund 90 Quadratmeter, ohne Balkon, aber mit Bad und Toilette. „Modern und normal“, wie er sagt. „Ich fühle mich wohl hier. Auch wenn sich in den letzten Jahren viel verändert hat.“

Früher, sagt er, kannte jeder jeden. Das Holländische Viertel war eine Art Künstlerenklave. Die Besonderheit der Wohnsituation, der Kiez, schuf Zusammenhalt. Sicher, heute grüßt man noch die Nachbarn, aber viele der Alteingesessenen sind weggezogen, weil sie die Mieten nach der Renovierung nicht mehr bezahlen konnten oder einfach raus wollten aus der Enge der schmalen Häuser. Weil ihnen die Touristen auf die Nerven gingen. Weil sich die Umgebung verändert hat, die Bäckerei von nebenan einem schicken Antiquitätenladen weichen mußte und sie dort, wo der Metzger seine Thüringer Würste verkaufte, jetzt Seidenkleider nicht unter 200 Mark anbieten. In jedem zweiten Haus findet man edles Silber und alte Schaukelpferde, nur einen Lebensmittelmarkt gibt es nicht. Dafür unzählige Kneipen, die Kirschbier ausschenken und den üblichen touristenkompatiblen Speisekartenmix aus Erbsenpürree und Spaghetti servieren. Übriggeblieben vom Einst ist Holzwurmhotti, der in einem dunklen, vollgestopften Laden auf der Kurfüstenstraße alles mögliche aus Holz baut. Nur ein paar Schritte weiter, an einem freien Laden in der Mittelstraße, klebt ein Schild. „Zu vermieten“ steht da. Und: „1.600 Mark kalt für 31 Quadratmeter“.

Eine, die den Wandel des Viertels vom Lebensraum zum sanierten Aushängeschild Potsdams mitbekommen hat, ist Karin Flegel. Die Architekturstudentin führt seit Jahren Gruppen für die Agentur Stattreisen zu Fuß über das Kopfsteinpflaster der Mittelstraße. Sie kennt die Brandgassen, Treppenhäuser und verborgenen Höfe, weist mit viel Gespür auf Details an den Häusern hin, entdeckt versteckte Schönheiten, wie alte Butzenglasscheiben oder historische Hauszeichen wie das Schiff über dem Tor zur Benkertstraße 5, Details, die dem schnellen Besucherblick entgehen.

Kurz nach der Wende zog sich noch eine Baustelle nach der anderen durch die Straßen von Klein- Holland. Inzwischen sind die meisten der Giebelhäuser komplett renoviert. Nur wenig erinnert an den Verfall des Viertels zu DDR-Zeiten. Doch die frische Tünche hat ihren Preis: „Junge Familien mit Kindern ziehen weg, gutverdienende Singles ziehen ein“, sagt Karin Flegel. Wirkliche Nachbarschaft sei bei diesem steten Umbruch kaum zu pflegen.

Geblieben ist jedoch ein Teil der Hausbesetzer, die Anfang der 90er Jahre in der Benkertstraße leerstehenden Raum eroberten. Nur daß sie die Illegalität mit einem Mietvertrag tauschen konnten. Im Haus Nummer 15, dort, wo vor 140 Jahren Theodor Storm lebte und vom „angenehmen Quartier“ schwärmte, drehen sich jetzt Betonmischer und Abschleifmaschinen auf dem Hof. Neun Leute, zum Großteil ehemalige Besetzer des Gebäudes, renovieren mit Hilfe des Sanierungsträgers Potsdam die Wohnungen und Aufgänge. Auch der Architekturstudent Ingo Pehla wird zum Ende des Sommers seine kleine Wohnung beziehen, die noch einem baulichen Schlachtfeld gleicht. Im Viertel hält ihn der fast dörfliche Charme inmitten der Stadt. „Das ist auch ein Ort zum Leben“, sagt er. „Und als solcher muß er erhalten bleiben. Hier dürfen nicht nur nette Puppenstuben entstehen inklusive Bewohnern in Holländerclogs.“