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Uruguay – Europäisches Déjà-vu

Ein schöner Name, ein schönes Land. Vieles zeugt vom einstigen Wohlstand, vieles vom Niedergang der einstigen „Schweiz Südamerikas“. Das kleine Land kennt keine Anonymität, aber auch keine großen Extravaganzen. Die Diktatur hat Spuren hinterlassen  ■ Von Keno Hame

Elf Fußballspieler wurden 1954 zu den Helden von Bern, indem sie den Weltmeisterschaftstitel in das aufstrebende Wirtschaftswunderdeutschland brachten. Die deutsche Mannschaft trat damit die Nachfolge der uruguayischen Sportler an, die vier Jahre zuvor für das kleine Land an der Ostküste Südamerikas den Titel erkämpft hatten. Während mit dem Sieg jedoch der Aufstieg Deutschlands begann, markierte Uruguays sportlicher Triumph gleichzeitig den Höhepunkt und das Ende der letzten ökonomischen Blütephase des Landes. Den ersten Wirtschaftsboom hatte das Land bereits zu Beginn des Jahrhunderts erlebt. Unter dem autokratisch regierenden Präsident Battle entwickelte sich die Ökonomie des Landes, bis die Weltwirtschaftskrise in den späten zwanziger Jahren zu einer Zäsur führte.

Wer heute nach Montevideo, der 1,3 Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt, kommt, sieht kaum moderne, glitzernde Hochhäuser wie in der nur 15 Flugminuten entfernten Metropole Buenos Aires, sondern vielmehr die Überbleibsel aus den Hochphasen des Landes, die ihm zeitweilig den Namen „Schweiz Südamerikas“ einbrachten. Zeugen der ersten Blütezeit sind die platanenbeschatteten Häuser der Stadt, zumeist ein- bis zweigeschoßige Gebäude im schlichten Kolonialstil, bis hin zum 1928 errichteten Palacio Salvo, dem damals höchsten Gebäude auf der Südhalbkugel der Erde. Die zweite Periode des uruguayischen Wohlstands spiegelt sich auf den Straßen wider, in denen die ausladend gewölbten Kühlerhauben von Chevrolet-Lastwagen vom Glanz der fünfziger Jahre künden.

Über den Glanz hat sich längst eine graue Patina gelegt. Häuser und Straßen wirken schäbig und lädiert, die Kleidung der Menschen grau und ärmlich. Das also soll das farbenfrohe Lateinamerika sein? Nein – Lateinamerika ist anderswo. Uruguay könnte eher als europäische Enklave durchgehen. Tatsächlich ist in keinem lateinamerikanischen Land die ursprüngliche indianische Bevölkerung so ausgelöscht worden wie in Uruguay. Die Mehrheit der heutigen Uruguayer hat spanische und italienische Vorfahren, einige wenige weisen Ahnen aus anderen europäischen Ländern vor. Afrikanische Wurzeln, wie man sie in Brasilien durch die Verschleppung schwarzer Sklaven findet, gibt es hier nur selten.

Für viele Uruguayer ist Europa damit nur zwei Generationen entfernt. Dem Besucher von Übersee erzählen sie gerne von dem, was sie mit der Alten Welt verbindet – etwa der Kellner aus der neonbeleuchteten Pizza-Bar, dessen Großvater aus Deutschland eingewandert ist. Wie er lächelnd berichtet, lernt er gerade Deutsch mit einem zehnbändigen Videokassettenkurs, den ihm ein deutscher Ingenieur, Stammkunde im Lokal, geschenkt hat. Genauso schnell wird die Frau, die ein Zimmer ihres Hauses zu einer Wäscherei umfunktioniert hat, dem Kunden Fotos ihres nach Italien ausgewanderten Sohnes zeigen, wird der gemütlich beleibte Betreiber des bis spät in die Nacht geöffneten Gemüseladens erzählen, daß sein Traum ist, einmal im Leben Hamburg zu bereisen, wo die von ihm verehrten Beatles ihre musikalische Karriere begründeten.

Und doch ist Europa so fern. Gemessen am niedrigen Einkommen der Uruguayer sind Flugtickets über den Atlantik sehr teuer, und die europäischen Touristen, die Lateinamerika bereisen, bevorzugen andere Länder. Wenn ein Deutscher durch seinen Akzent als Ausländer auffällt, hält man ihn zumeist für einen Gringo, einen Nordamerikaner, gelegentlich auch für einen Brasilianer: Schließlich ist Brasilien das einzige Nachbarland, in dem eine andere Sprache gesprochen wird.

Der an Effizienz gewöhnte Europäer wird anfangs Schwierigkeiten haben, sich in diesem etwas verschlafenen Land zu orientieren. Wie zum Beispiel soll man in der Millionenstadt Montevideo die öffentlichen Busse benutzen, wenn es keine Pläne über Fahrzeiten oder detaillierte Fahrtrouten gibt? Es bleibt nichts, als sich bis zur richtigen Bushaltestelle durchzufragen und gelassen zu warten. So machen es auch die Montevideaner, und daran würde auch die Existenz von Fahrplänen nichts ändern. Einer mündlich erteilten Information wird das größere Vertrauen geschenkt.

Die kleine Nation ist derart überschaubar, daß sich jedem Uruguayer mit mündlichen Informationen und persönlichen Kontakten bereits ein großer Teil des Landes erschließt. Lediglich drei Millionen Einwohner plus südländische Mentalität ersticken Anonymität im Keim. In bezug auf äußere Merkmale wie Verhalten und Kleidung fällt kaum ein Uruguayer aus dem Rahmen des engen gesellschaftlichen Konsenses. Elf Jahre Militärdiktatur – bis zum blutigen Ende 1984 – haben die Uniformität forciert und für alternative gesellschaftliche Strömungen keinen Raum gerlassen.

Seit der friedlichen Rückkehr zur Demokratie haben sich die politischen Verhältnisse in Uruguay stabilisiert. Die wirtschaftliche Situation der uruguayischen Gesellschaft wartet jedoch noch auf den Umbruch. 20 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, die Elendsviertel breiten sich aus.

Den Kontrast zu den Baracken am Stadtrand findet man in den neuen Shopping-Centern. Nach Vorbild der nordamerikanischen malls wurden in Montevideo vier Einkaufszentren erbaut, in denen Qualitätsartikel aus der Alten und der Neuen Welt verkauft werden. Wer es sich leisten kann, hält den Anschluß an die Konsumgewohnheiten Europas. Doch auch wenn mehr und mehr japanische Mikrowellenherde in den Küchen und neue französische und deutsche Autos auf den Straßen Einzug halten, bleiben die Relikte der früheren Blütephase erhalten: Neben den Mikrowellen brummen weiterhin die wuchtigen General- Electric-Kühlschränke aus den Fünfzigern, am Straßenrand werden weiterhin die alten Chevrolet- Laster mit hölzernen Gemüsekisten beladen – Szenen, die beim deutschen Besucher die Erinnerung an vergangene Zeiten aufleben lassen. Und weiterhin erhebt sich der Palacio Salvo über das Stadtzentrum Montevideos. Längst gibt es an anderen Orten der Südhalbkugel höhere Gebäude. Doch kaum eines davon kann mit den überreichen, zuckerbäckerartigen Verzierungen des grau gewordenen Palacio Salvo konkurrieren, der an den ehemaligen Wohlstand des Landes erinnert.

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