: Immer mehr Schüler müssen draußen bleiben
■ Jeder zehnte Schulanfänger scheitert an der Einschulungsuntersuchung. Schulsenatorin plädiert für Anpassung des Schulwesens an veränderte soziale Bedingungen. Grundschulverband fordert die Abschaf
Mehr und mehr Kinder scheitern an der Einschulungsuntersuchung. Mehr als jeder zehnte der rund 27.500 Erstkläßler gilt aus gesundheitlichen Gründen oder wegen sozialer Verhaltensauffälligkeiten als nicht einschulbar. Im abgelaufenen Schuljahr wurden nach Angaben der Welt am Sonntag 11,2 Prozent der Erstkläßler zurückgestellt. Bei den diesjährigen Untersuchungen wurden in Kreuzberg 13 Prozent, in SO 36 sogar über 18 Prozent der Schulanfänger wegen gravierender „Entwicklungshemmungen“ zurückgestellt. In Neukölln scheiterten 471 von 3.680 Schulanfängern an der schulärztlichen Untersuchung. Bundesweit schwankt die Quote zwischen 5 und 13 Prozent. Zu den gravierenden Gesundheitsmängeln gehören Sehfehler, psychische und Sprachstörungen, Hauterkrankungen und Übergewicht.
Deutliche Entwicklungsveränderungen und große Unterschiede in der Schreib-, Lese- und Rechenkompetenz hat auch Schulsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) festgestellt. Weil die Lernausgangslage der Kinder heute „extrem unterschiedlich“ sei, fordert die Senatorin, daß sich das Schulwesen an die veränderten Lebensbedingungen der Schüler anpassen muß. „Grundsätzlich soll allen schulpflichtigen Kindern die Aufnahme in die Schule ermöglicht werden“, heißt es in ihrem Positionspapier zur „Grundschulreform 2000“, das der taz vorliegt. Die sieben Teilprogramme – Schuleintritt, Schulanfangsphase, verläßliche Halbtagsgrundschule, Förderung benachteiligter Kinder, Fremdsprache ab Klasse 3, Profilbildung/Differenzierung in den Klassen 5/6 und Computereinsatz in der Grundschule – bilden die Arbeitsschwerpunkte für die kommenden Jahre.
Stahmer begründet ihre Forderung mit den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen. Die „Mutter-Vater-Kind-Familie“ habe ihren Allgemeingültigkeitsanspruch verloren, die Erziehungskompetenz der Eltern halte der „verwirrenden Vielfalt unterschiedlicher Norm- und Wertsetzungen“ oft nicht mehr stand. Wegen drohender Arbeitslosigkeit hätten Eltern „nur selten noch die Kraft, Geborgenheit zu vermitteln und Vertrauen in eine unsichere Zukunft weiterzugeben“. Fazit: „Für viele Schulkinder in Berlin ist Armut und soziale Vernachlässigung schon heute tägliche erlebte Wirklichkeit.“
Um darauf zu reagieren, fordert Stahmer, daß die Schule über die reine Fachvermittlung hinaus verstärkt den „öffentlichen Erziehungsauftrag als Hilfe und Orientierung wirksam werden lassen“ muß. Deshalb soll das Verfahren zum Schuleintritt im Sinne der Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) flexibler werden. Während noch nicht schulpflichtigen Kindern mit entsprechendem Entwicklungsalter die Schulaufnahme erleichtert werden soll, soll auf Lernschwierigkeiten präventiv reagiert werden. Kinder mit sonderpädogischem Förderbedarf könnten bei entsprechenden Förderbedingungen weiterhin in die Grundschule aufgenommen werden. Stahmer will die Reform mit Beginn des Schuljahres 1998/99 umsetzen.
Peter Heyer vom Berliner Vorstand des Grundschulverbandes fordert sogar eine generelle Abschaffung der Einschulungsuntersuchung. „Das ist ein alter Zopf, der gehört abgeschnitten“, sagte er gestern zur taz. Es dürfe nicht darum gehen, die Kinder schulfähig zu machen, sondern die Schulen kindgerecht. Hinter der zunehmenden Zahl von Rückstellungen vermutet Heyer mehrere Gründe: die Abnahme der Förderung der unterschiedlichen Fähigkeiten der Kinder und ein „ungünstiges Entwicklungsklima“ vieler Kinder aufgrund der Arbeitslosigkeit der Eltern. Außerdem würden sich viele Schulen mit einer Rückstellung „das Problem ein Jahr vom Hals schaffen wollen“. Zu guter Letzt glaubt Heyer, daß es viele Eltern gibt, die ihre Kinder erst ein Jahr später in die Schule schicken wollen. Barbara Bollwahn
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