: Vergebene Chance am Kanzlerufer
Wie Christoph Schlingensief mit einer Badeaktion in St. Gilgen am Wolfgangsee zwar eine Menge Journalisten und Polizisten mobilisierte, aber leider weder den Kanzler im Urlaubsdomizil noch einen einzigen Arbeitslosen ■ Von Tina Angerer
„Herzlich willkommen! Wir sind die Chance.“ Die drei jungen Frauen in kurzen Sommerkleidern wühlen sich durch die Ansammlung von etwa hundert Badegästen, Journalisten, Punks, Studenten, schütteln fremde Hände und verkünden die frohe Botschaft von der letzten Chance. Die knapp dreißig Meter lange Badebucht am Wolfgangsee, in der bis vor kurzem nur ein paar Urlauber auf der Wiese am Kiesufer gelegen hatten, ist voll. Mittendrin auch der Guru, ein Mann mit knallroter Baseball- Kappe, der, gefolgt von Kameramännern, mit ausgestreckter Hand und breitem Grinsen auf die Menschen zugeht.
„Willkommen in St. Gilgen. Schön, daß Sie gekommen sind.“ Er reicht der älteren Dame mit Strohhut genauso die Hand wie der jungen Frau mit den faulen Zähnen, die oben ohne auf ihrem Handtuch sitzt. Die älteren Semester drehen ab, bevor die Erscheinung ihre Hand ergreifen kann. Andere grüßen freundschaftlich: „Hallo Christoph, wir sind extra wegen dir da.“ Der Mann heißt Schlingensief, möchte gerne in den nächsten Minuten hier baden und ist verantwortlich für das größte Medienereignis am Wolfgangsee neben den jährlichen Auftritten Helmut Kohls mit Frau und Tier.
Sechs Millionen Menschen wollte Christoph Schlingensief, Filmemacher, Theaterregisseur und neuerdings Parteivorsitzender, ursprünglich mobilisieren. Nachdem Schlingensief letztes Jahr mit seiner Talkshow „Talk 2000“ aus den Undergroundkinos herauskam in eine breitere Öffentlichkeit, avancierte er als Vorsitzender der Partei Chance 2000 endgültig zum Medienstar. Die Aktion am Wolfgangsee kündigte er schon vor Monaten an. Sie sollte der Höhepunkt der Wahlkampftour sein. Sechs Millionen Arbeitslose baden im Wolfgangsee, bringen ihn zum Überlaufen und setzen damit das Feriendomizil des Bundeskanzlers unter Wasser.
Kohl sollte angesichts dessen, was 16 Jahre seiner Regierung hervorgebracht haben, nasse Füße kriegen. Ursprünglich hätte es eine großangelegte Aktion im Rahmen des Festivals „Szene Salzburg“ werden sollen. Die Stadt Salzburg drohte aber wegen angeblicher Kontakte Schlingensiefs zur Anarchistischen Pogo Partei Deutschlands (APPD), die Subventionen für das Festival zu streichen. Schlingensief mußte einen Rückzieher machen. So wurde aus der Aktion ein „ganz privater“ Badegang. Nichts Offizielles, keine Aktion der Partei, also auch keine rechtlichen Konsequenzen.
Um die Mittagszeit umgab den Urlaubsort im Salzkammergut noch bürgerliche Langeweile. Man ist sich sicher, da ist keine Spur von Aktionismus in Sicht. „Hier findet heute nichts statt. Das werden die schon zu verhindern wissen.“
Die haben es nicht verhindert. Weder daß Schlingensief kommt, noch daß er die ihm momentan beständige Aufmerksamkeit der Medien anzieht, mit der er auf seine Weise umgeht. „Die Veranstaltung ist abgesagt, weil ein Wels eine Touristin gebissen hat“, verkündet er. Im grauen Monteursanzug, bestickt mit den Emblemen des Kapitalismus von Fuji bis Allianz, genießt er das Kopfschütteln der Badegäste und zeigt uns wieder mal, daß das ganze Leben eine Inszenierung ist.
Theater ist Leben, Politik ist Theater, Wähle dich selbst, Jeder hat recht, Ich verspreche dir nichts, Scheitern als Chance. Schlingensief lamentiert und proklamiert, inszeniert und fasziniert. Jeder sucht sich selbst aus, was das Spannende, Wahre oder Interessante an dem Berufsprovokateur ist.
„Christoph ist in der Beuysianischen Tradition. Jeder ist Künstler, jeder hat ein riesiges Potential. Das gefällt mir“, sagt Boris. Der 17jährige Gymnasiast ist Gründungsmitglied von Chance 2000. Er ist Inbegriff dessen, was für Schlingensief die Generation mit dem Übervater Kohl ist. Boris ist voller Tatendrang an den Wolfgangsee gefahren und ist sich völlig sicher: „Wir überschwemmen ganz St. Gilgen.“
Pierre beschäftigt sich weniger mit Beuys, sieht die Sache eher etwas pragmatischer. „Es macht Spaß, hier zu sein.“ Der 30jährige Politikstudent ist extra aus Frankfurt angereist. Einige seiner Freunde gehören zu Chance 2000. Er selbst ist kein Mitglied, weiß nicht genau, was Schlingensief will und was die Chance 2000 wirklich ist. Doch das macht für ihn gerade den Reiz aus. „Er kann wenigstens nichts versprechen, was er sowieso nicht halten kann.“ Für ihn ist Chance 2000 vor allem eine Plattform, auf der er seine individuellen Ideen ausleben kann. Zu ernst nehmen will Pierre die Sache nicht, das ist das Schöne daran.
Wie ernst Schlingensief sich selbst nimmt, ist ebenfalls unklar. Daß einige ihn wohl sehr ernst nehmen, zeigen die Morddrohungen, die er erhalten hat, „Schlingensief, du weißt, du mußt sterben. Bis bald“, soll auf dem Brief gestanden haben, den er in St. Gilgen erhalten hat. Schlingensief hat Personenschutz beantragt und bekommen. „Das sind im Grunde dieselben Leute, die Kohl bewachen“, sagt er, als würde es ihn befremden, daß er mit dem Kanzler eine Gemeinsamkeit hat. Um dessen Sicherheit und um die Ruhe in St. Gilgen waren im Vorfeld viele besorgt. Weniger Schlingensief selbst, der wohl eher als harmloser Künstler eingestuft wird, als vielmehr „andere Wirrköpfe, die sich eventuell anschließen“, waren für Karl Stürzenbaum von der Sicherheitsdirektion Salzburg das Problem. Deshalb wurde die verschärfte Bewachung des Kanzlerdomizils angeordnet, die Straßen kontrolliert, die Polizei in Alarmbereitschaft versetzt.
Da sieht die Menschentraube in der kleinen Bucht fast ein wenig armselig aus, die sich ein paar hundert Meter von der Kohl-Villa entfernt zum Happening des Scheiterns versammelt hat.
„Ich bin hier völlig privat!“ ruft Schlingensief – und wird ganz privat mit dem Gegröle der Anwesenden belohnt. Nicht mehr als fünfzig gezielte Aktionsbesucher sind es, aber sie befolgen das Motto „Beweise, daß es dich gibt“. Die Hymne der Partei erklingt, die fröhlichen Gesänge von dem Blick in eine schöne Gegend und von lauter Freunden locken die Segelboote vom Yacht-Club an, Schlauchboote nähern sich. Der Parteivorsitzende erläutert noch einmal die Grundsätze seiner Partei und der Aktion. „Wer gescheitert ist, darf noch geliebt werden. Ich gehe hier baden, in dem Bewußtsein, daß es sechs Millionen Arbeitslose gibt. Helmut Kohl ist im Delirium, er glaubt neuerdings, er sei ein Elefant.“
Im Wasser stehend wird ein Chance-2000-Transparent in die Kameras gehalten, der Plakatträger ist „metaphysisch arbeitslos“. Warum er sich das auf ein Pappschild geschrieben und um den Hals gehängt hat, weiß er nicht, aber hier darf jeder sagen, rufen und schreiben, was er will.
„Jeder hat recht!“ ruft Schlingensief, und meint damit womöglich auch die Touristin aus dem bayerischen Berchtesgaden, die mit finsterer Miene das Geschehen beobachtet. „Ich will eigentlich nur meine Ruhe. Wieso können die das denn nicht in Berlin machen, oder sonstwo?“ Mehrere Badegäste sind sauer wegen der Störung ihrer Ruhe. Gerade in St. Gilgen werden ihnen Beschaulichkeit und Idylle versprochen. Die meisten kommen schon seit Jahren hierher, aber so etwas haben sie noch nie erlebt. Jetzt stehen sie trotzdem auf den Zehenspitzen und beobachten den gutaussehenden jungen Mann, der plötzlich eine grüne aufblasbare Schildkröte und ein rosafarbenes Nilpferd in die Luft hält: „Diese Geschenke habe ich von Elfriede Jelinek bekommen, die euch alle sehr herzlich grüßt.“ Auch das Amulett von Joop wird bejubelt.
Unter Absingen ihrer Hymne „Freund, Freund, Freund“ schreitet die Chance 2000 Punkt 16 Uhr in den See. Schlingensief führt mit „Hurra“-Rufen im Overall die Meute an und schwimmt in Richtung Kanzler-Haus.
Die Zurückgebliebenen, Journalisten, Zuschauer und Wasserscheue, schauen dem Trupp von vierzig Leuten hinterher. Bald sind die Badenden um die Ecke verschwunden und nur noch zu hören. In diesem Moment gibt es für die wachsamen Augen der Republik nichts zu sehen. Untätig warten die Berichterstatter auf das, was kommen möge.
Da läßt es sich die Anarchistische Pogo Partei Deutschlands nicht nehmen, auch etwas Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen. Vorher nur leise im Hintergrund, stürmen jetzt einige APPD- Aktivisten auf das Ufer zu und ergreifen das Wort.
Das andere Ufer, an dem die Chance 2000 dem Kanzler so gerne die Chance gegeben hätte zu beweisen, daß es ihn gibt, ist von der Polizei abgeriegelt. Angeblich war der Kanzler den ganzen Tag in St. Gilgen, angeblich in seinem Haus. Doch die Erwartungen der letzten Chance werden enttäuscht. Die Badenden stehen am Kanzlerufer im Wasser, singen ihre Lieder, rufen nach Kohl. Kein Winken, kein Statement, keine Reaktion. Nach einer Viertelstunde geben sie auf und schwimmen zurück.
Als Christoph Schlingensief mit blauen Lippen aus dem Wasser steigt, verkündet er: „Ich muß ihnen die traurige Mitteilung machen, daß der Bundeskanzler heute um 16.15 Uhr verschieden ist. Dr. Helmut Kohl ist tot.“ Sodann wird die Inszenierung der Beisetzung des Kanzlers in München angekündigt, was auf einen weiteren Höhepunkt in der Wahlkampftour von Chance 2000 schließen läßt.
In St. Gilgen löst sich die Bade- Demo langsam auf. Der 26jährige Michael fand, es war „ein geiler Tag“. Auch Christoph Schlingensief ist mit dem Bade-Happening sehr zufrieden: „Wir waren eine Familie heute. Das war schon eine theatralische Sache.“ Die Familie war da, die Medienfamilie auch – wer nicht da war, waren die Arbeitslosen. Die konnten sich den Ausflug an den See nicht leisten. Schlingensief hatte sie gegrüßt mit der Aufforderung, sie sollten zu Hause in die Wanne steigen. „Es spielt keine Rolle, wie viele Arbeitslose hier im See sind. Das ist alles eine Frage der Sichtweise.“
So sehen das allerdings auch andere: Die Arbeitsloseninitiative Traunstein hat sich als einzige ihrer Art auf den Weg gemacht und ihr Transparent hochgehalten: „Arbeitslos, aber wir wollen arbeiten.“ Die Arbeitslosen, mit denen sie zu tun haben, kennen den Namen Schlingensief gar nicht. Die Mitarbeiter der Initiative sind keine Mitglieder von Chance 2000. Aber sie haben das Wesentliche begriffen. „Hier wird endlich mal Action gemacht. Wir wußten, daß ein Haufen Medien da sind, deswegen haben wir unser Transparent mitgebracht.“
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