„Das muß auch der Rentner in Huckelriede verstehen“

■ Eine kurze Einführung in den Lokaljournalismus / 2. Lektion: Die Jagd nach dem Phantom namens Leser

Jeder will Journalist werden. Wir verstehen das nur zu gut. Der Puls der Zeit schlägt immer zuerst an unseren Schreibtischen. Mittags erst stehen wir auf, werden anschließend vom fröhlich pfeifenden Chauffeur in die Redaktion befördert, wo wir den Rest des Tages – je nach Lust und Laune – entweder telefonieren oder im Internet surfen. Und abends hängen wir – umsonst natürlich – mit der ganzen Familie im Theater oder im besten Restaurant der Stadt ab. Journalismus ist zweifellos ein Traumjob.

Aber der Weg dahin ist hart. Sehr hart. Sehr sehr hart. Aber: Journalismus kann man lernen. Und wir bringen es Ihnen bei. Wenn Sie in den kommenden Wochen aufmerksam jede Folge unserer kleinen Einführung in den Lokaljournalismus studieren, werden Sie alle Voraussetzungen erfüllen, um sich erfolgreich bei uns um einen Arbeitsplatz bewerben zu können. Also aufgepaßt.

In der heutigen Folge unserer kleinen Schule des Lokaljournalismus widmen wir uns einer schwierigen Frage. Sie lautet: „Versteht das auch die Rentnerin aus Gröpelingen?“ Sie kann Ihnen auch in Aussageform begegnen und lautet dann: „Das muß auch der Rentner in Huckelriede verstehen!“ Und ein jeder Redakteur, der diesen Satz sagt, malt danach ein Ausrufezeichen in die Luft des Konferenzraumes, als wüßte er für einem Moment, welchen Leser er vor sich hat.

Dabei hat der Rentner – oder meistens: die Rentnerin – keinen festen Wohnsitz und lebt unter wechselnden Namen. Fest steht nur, daß die Rentnerin im globalen Lokaljournalismus das Sinnbild ist für den Leser – in der taz: die LeserIn – an sich. Der ultimative Superleser – in der taz: Sie wissen schon – kann Ihnen bei Diskussionen unter Journalisten deshalb als Rentner aus Hemelingen, als Oma Krawulke aus Huchting (Berlin-Spandau, Frankfurt-Bornheim, Dortmund-Huckarde, ...) oder auch als Lieschen Müller begegnen und ist das Phantom jeder Redaktion.

Nur ein einziges Mal soll es in den Körper des ehemaligen Chefredakteurs der Illustrierten „Stern“ gefahren sein, und die Redaktion rieb sich verwundert die Augen, als es mit der Stimme Henri Nannens rief: „Ich bin Lieschen Müller.“

Seitdem ist viel Zeit vergangen, und seitdem warten die Herren Markwort, de Weck und Bissinger nachts und heimlich auf eine ähnliche Heimsuchung. Aber sie ist bisher ausgeblieben. Das Phantom alias Lieschen Müller alias Oma Krawulke macht deshalb auch Ihnen, liebe SeminarteilnehmerInnen, das Leben schwer. Denn der Leser an sich hat einen äußerst wechselhaften Geschmack. Aber zum Glück sind wir ja da, um Ihnen zu helfen.

Stellen Sie sich also vor, Sie haben die ultimative Skandalgeschichte recherchiert: In der evangelischen Gemeinde zur einsamen Jungfrau in Bremen/Fähr-Lobbendorf werden Spenden in Millionenhöhe veruntreut. Der Pastor – früher im KBW, dann CDU-Mitglied – läßt sich von Schwarzarbeitern eine Villa mit Swimming-Pool und allen Schikanen bauen. In den Skandal verwickelt ist auch ein sozialdemokratischer Ex-Senator, den Sie als Kopf einer albanischen Schlepperbande enttarnt haben, die mit Bewilligung des Rathauspförtners – früher FDP, jetzt PDS-Mitglied – sonntags den Fuhrpark des Bremer Senats nutzt, um ihren Machenschaften nachzugehen.

Sie kommen aufgeregt in die Redaktionskonferenz und berichten über Ihre Erkenntnisse. Klar, die Frage aus Lektion 1 („Was bedeutet das für mein Portemonnaie?“) können Sie schon beantworten („drei Mark“). Trotzdem reden Sie sich über Ihre Enthüllung in Rage, fordern den Aufmacher und noch mehr Platz, rufen: „Das kann man nicht in 106 Zeilen darstellen“ und wischen sich gerade den Schweiß von der Stirn, als jemand einwirft: „Das muß auch die Rentnerin in Huckelriede verstehen.“ Ausrufezeichen!

Inzwischen schon ein Beinahe-Profi geworden, verwandeln Sie sich sofort in die Einsicht in Person. Sie sagen: „Okay.“ Und Sie erkennen, daß Ihre Recherche zwar in ein Wespennest vorgedrungen ist, aber die Vorgänge zu kompliziert sind. Außerdem hat die letzte „Focus“-Umfrage eindeutig nachgewiesen: Der Leser an sich interessiert sich nicht mehr für Politik. Doch verzagen Sie nicht, denn trotzdem bietet Ihre Recherche für mindestens fünf Geschichten Stoff. Und weil Sie nach erfolgreicher Teilnahme an der ersten Lektion service-orientiert denken, finden Sie gleich den richtigen Dreh: Sie schreiben 50 Zeilen über „Der Swimming-Pool im Garten – bei welchem Baumarkt gibt's die günstigsten Teile?“ und bereiten für den nächsten Tag schon mal einen Übersichtskasten „Spenden – wo kommen sie her, wo gehen sie hin?“ vor. Und wieder haben Sie einen kleinen Schritt für die Menschheit, aber einen großen auf Ihrem Weg auf den Olymp des Journalismus getan. ck

Die nächste Lektion erklärt den „Bremen-Dreh“ und das „Auf Bremen runterbrechen“