Mit dem Wahlrecht auf Du und Du
: Wer SPD wählt, schadet der SPD

■ Jura-Student kritisiert Wahlrecht

Wer in Bremen SPD wählt, könnte der SPD bei den Bundestagswahlen schaden, das hat der Bremer Jura-Student Wilko Zicht ausgerechnet. Diese Erkenntnis bezieht sich auf eindeutige Zahlen: Wenn die SPD in Bremen bei den Bundestagswahl 1994 nur 1.042 Stimmen mehr bekommen hätte, dann hätte die SPD-Fraktion im Bundestag einen Sitz weniger erhalten. Der Paderborner Abgeordnete Gerd Bauer verdankte diesen fehlenden SPD-Zweitstimmen seinen Sitz.

Dem Bremer Landeswahlleiter Dieter Matthey ist das Phänomen unbekannt: „Dazu kann ich nichts sagen, ich bin kein Mathematiker“, erklärte er gestern zu dem Beispiel. Das Bundesinnenministerium hat den Hinweis des Jura-Studenten überprüft und ihm geschrieben, es sei in der Tat „ein im Einzelfall mögliches Ergebnis“, daß „eine Partei bei Zugrundelegung bestimmter Wahlergebnisse deshalb mehr Mandate bekommen kann, weil sie weniger Stimmen erhalten hat...“

Es handelt sich aber keineswegs um einen Einzelfall. Wenn im Jahre 1994 die SPD in Bremen 5.000 Stimmen mehr und in Brandenburg 75.000 Stimmen mehr bekommen hätte, wären unter dem Strich im Bundestag sogar zwei Sitze weniger auf die SPD entfallen, bestätigte das statistische Bundesamt dem Studenten. Im Jahre 1983 hätten 4.083 Bremer Stimmen mehr im Ergebnis die SPD einen Sitz gekostet. Es geht auch umgekehrt: Bei den Bundestagswahlen 1957 haben zu viele in Bremen die SPD gewählt, 20.281 Stimmen weniger hätten in Bonn einen Sitz gebracht.

Da das Innenministerium dem Bremer Jura-Studenten mitteilte, das sei zwar so, aber trotzdem in Ordnung, erwägt er, das Verfassungsgericht anzurufen, wenn er bei den kommenden Bundestagwahlen ähnlich absurde Konstellationen feststellt. Ein Studienfreund von ihm aus Osnabrück hat einige Fallbeispiele ins Internet gestellt und damit das Interesse der Zeitschrift „Mathematik lehren“ erweckt, die das Beispiel der Lehrerfortbildung empfiehlt.

Wie es zu den seltsamen Effekten kommt, denen Gerd Bauer aus Paderborn und andere ihr Bundestagsmandat verdanken, ist eigentlich leicht nachzuvollziehen: Nach einer Bundestagswahl werden die Stimmen, die die Parteien auf ihre Landeslisten insgesamt bekommen haben, zusammengerechnet, um daraus die normale Sitzverteilung im Bundestag zu errechnen. Wenn aber, wie in Bremen in aller Regel, der SPD nach den Zweitstimmen nur zwei Sitze zustehen, aufgrund der Wahlkreisergebnisse aber drei Kandidaten direkt in den Bundestag gewählt wurden, dann ist dadurch ein Überhang-Mandat entstanden. Die Aufgabe für die Mathe-Lehrer lautet also: Wieviel Stimmen mehr hätte die SPD in Bremen auf ihre Landesliste bekommen müssen, damit sie ihre drei Mandate „ehrlich“ verdient hätte, ohne aber gleichzeitig das Bundeswahlergebnis relevant zu verschieben? In diesem Falle nämlich wäre der dritte Bremer Sitz kein Überhangmandat mehr, sondern ein normaler Sitz, der auf einer anderen Landesliste zu einem Sitz weniger geführt hätte.

Überall, wo es Überhangmandate gibt oder geben könnte, taucht also das Ungerechtigkeits-Problem auf. Wenn die SPD in Bremen 1983 insgesamt 73.622 Stimmen weniger bekommen hätte, dann hätte sie in Bonn ein Mandat mehr gehabt. Die CDU hatte 1994 in Thüringen und Sachsen-Anhalt Überhang-Mandate. Wenn sie in Sachsen-Anhalt 150 Stimmen weniger und in Thüringen 19.600 Stimmen weniger gehabt hätte, dann hätte sie heute in Bonn über andere Landeslisten zwei Abgeordnete mehr.

Erst bei den Bundestagwahlen im Jahre 2002, wenn in Bremen nur noch zwei Wahlkreise gebildet werden, wird es nicht mehr gefährlich sein, in Bremen SPD zu wählen. K.W.