: Eine neue Friedensbewegung in Indien
Nach dem verbreiteten Jubel über die Atomtests im Mai melden sich jetzt kritische Stimmen zu Wort. Bürgerinitiativen organisieren in vielen Städten Schweigemärsche zum heutigen Hiroshima-Tag ■ Aus Poona Rainer Hörig
Sirenen heulen, Stimmen kreischen. Menschen taumeln schmerzgekrümmt zu Boden. Entsetzt halten Passanten inne. Die rasch anschwellende Menschentraube blockiert den Verkehr. Dies ist jedoch nicht der Ernstfall, sondern ein Straßentheater in der indischen Industriestadt Poona. Seit Tagen machen Bürgerinitiativen in vielen Städten des Landes auf die verheerenden Folgen eines möglichen Atomkrieges aufmerksam. Nach den Atomtests im Mai formiert sich in Indien eine neue Friedensbewegung.
Jeden Freitag demonstrieren die Mitglieder der frisch gegründeten „Bewegung in Indien für nukleare Abrüstung“ in Neu-Delhi. Auf Bombays S-Bahnhöfen verteilen Freiwillige weiße Schärpen und fordern BürgerInnen auf, diese zum Zeichen des Protestes über der Brust zu tragen. Zum Gedenken an die Opfer des ersten Atombombenabwurfs über der japanischen Stadt Hiroshima vor 53 Jahren finden heute vielerorts Schweigemärsche statt.
Etwa die Hälfte aller Inderinnen und Inder hat nie eine Schule von innen gesehen. Nur wenige können sich die grausame Wirkung einer Atombombenexplosion vorstellen. Die vordingliche Aufgabe der Friedensaktivisten besteht daher in der Aufklärung der Bevölkerung durch Filmvorführungen, Wanderausstellungen, Konzerte und Straßentheater.
Die Schauspielerin Dolly Thakore, die den heutigen Friedensmarsch in Bombay koordiniert, erläutert, daß die Bewegung sich vorerst auf die Forderung nach weltweiter atomarer Abrüstung verständigt habe, weil Menschen unterschiedlicher sozialer und professioneller Herkunft zusammengeführt werden müßten. „Wir sind noch eine kleine Minderheit. Der Diskussionsprozeß über Ziele und Strategien hat gerade erst begonnen. Unsere Gegner sind zahlreich und genießen politische Patronage“, sagt Thakore. In den vergangenen Wochen hatten radikale Hindugruppen wiederholt Friedensaktivisten attackiert.
Der Jubel, mit dem die Atomtests im Mai begrüßt wurden, entsprang in erster Linie der Sehnsucht eines vielfach gedemütigten Volkes nach Anerkennung durch die Mächtigen der Welt. Nun wagen sich immer mehr Kritiker an die Öffentlichkeit. Pensionierte Militärs machen auf die immensen Folgekosten der atomaren Aufrüstung aufmerksam: Frühwarnsysteme und Schutzbunker müßten eingerichtet werden, neue Waffenträger und atomar betriebene Unterseeboote entwickelt und gebaut werden. Kritische Wissenschaftler hinterfragen den Sinn einer technischen Errungenschaft, die der massenhaften, nachhaltigen Zerstörung diene. Schriftsteller und Filmregisseure klagen den unwiderruflichen Imageverlust an, den das Land Buddhas und Mahatma Gandhis in den Augen der Weltöffentlichkeit erlitten habe. Frauengruppen und Entwicklungsorganisationen befürchten, daß Sozialprogramme gestrichen würden, wenn Atomwirtschaft und Militär immer höhere Forderungen stellten. Tatsächlich hat die von nationalistischen Hindupolitikern geführte Regierung im laufenden Haushaltsjahr den Etat für Verteidigung um 14 Prozent, den für die staatliche Atomwirtschaft gar um 64 Prozent erhöht.
„Indiens Atombombe steht für den ultimativen Betrug, den die herrschende Klasse an ihrem Volk verübt“, schrieb die indische Schriftstellerin Arundati Roy, die letztes Jahr mit ihrem Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ Weltruhm erlangte, kürzlich in einem Essay. „Es ist schließlich viel einfacher, die Bombe zu bauen, als 400 Millionen Menschen eine Schulbildung zu ermöglichen.“
Unmittelbar nach den Tests hatten einzig die kommunistischen Parteien eine kritische Position bezogen. Inzwischen werfen auch andere Oppositionsparteien der Regierung vor, mit den Tests nationalistische Gefühle aufpeitschen und so ihre wackelige Koalition stabilisieren zu wollen.
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