„Immer wieder freilaufen!“

In Amsterdam haben sich 250.000 Homosexuelle zu den 5. Gay Games versammelt. Wichtiger als der sportliche Erfolg ist den meisten Teilnehmern das Gemeinschaftserlebnis  ■ Von Ulrike Fokken

Noch mal die Socken hochziehen. Die Schnürsenkel prüfen, das Band am Hosenbund festzurren. Iris Mimrah, israelische Basketballspielerin, ist nervös. Zwischen den letzten Vorbereitungen zum Spiel gegen Rrrasant Hamburg erklärt sie ihren Teamkolleginnen noch mal die Taktik. An den Gegnerinnen bleiben, das Team auseinanderziehen und dann in die Lücke vorstoßen. „Freilaufen, immer wieder freilaufen!“ schärft sie ihren Mitspielerinnen ein. Iris ist die einzige Profispielerin im Team Klaf aus Tel Aviv. Dreimal schon hat sie in der israelischen Nationalmannschaft gespielt, nach Amsterdam ist sie gekommen, „um zu gewinnen“.

Das ist allerdings nicht ganz einfach, denn erst eine Woche vor Abflug hatte Iris das Team mit zehn Frauen komplett. Zwei von ihnen hatten vorher noch nie einen Basketball in der Hand gehabt. Nach fünf Trainingseinheiten in Tel Aviv können sie jetzt zwar leidlich dribbeln, sitzen aber die meiste Zeit auf der Ersatzbank. Aber Klaf hat sich bislang gut geschlagen. Am Morgen haben sie das Team Slovakia mit 38:15 besiegt, und gegen die New York Ellens hatte sich Klaf mit 30:53 immerhin gut gehalten. Und den Amsterdam Tigers, denen später der Amsterdamer Bürgermeister Schelto Patijn die Goldmedaille umhängen wird, haben die Israelinnen noch 19:47 Punkte abgejagt. Gegen die Rrrasant-Frauen aus Hamburg hat Klaf also gute Chancen.

„Ladies, please get ready to play“, tönt es aus dem Lautsprecher. Auf den vier Feldern in der Apollohal stellen sich die Teams auf. Vier Schiedsrichter beobachten die Uhr, werfen den orangefarbenen Ball zum Sprungball hoch, acht Frauen springen in die Höhe. Iris Mimrah hat den Ball erwischt. Sie geht mit Klaf schnell in Führung und wird gegen Rrrasant mit 35:21 gewinnen. „Erfolg ist gut, aber Basketball ist mir hier nicht das Wichtigste“, sagt Chagit Rubinstein, Spielerin bei Klaf. „Ich bin hierhergekommen, um aufzutanken – so viele Lesben und Schwule an einem Ort geben eine Menge Kraft“, sagt Chagit mit geballter Faust. „Die brauche ich in Israel, wo ich kaum auf Lesben treffe.“

In Amsterdam trifft Chagit seit Samstag auf die Kraft von 250.000 Lesben und Schwulen. Aus Kenia und Frankreich, den USA und Kasachstan, Neuseeland und dem kleinen Inselstaat Vanuatu haben sich in der vergangenen Woche Homosexuelle aufgemacht, um an den fünften Gay Games teilzunehmen. Es ist die erste homosexuelle Olympiade außerhalb Nordamerikas und die erste in Europa. Aus 66 Staaten der Erde sind über 12.000 Sportler und Sportlerinnen – mehr als zu den letzten Olympischen Sommerspielen – angereist, um sich während einer Woche in ihrer Disziplin zu messen. 30 Sportarten von Rudern über Karate und Schwimmen bis Fußball haben die Veranstalter zugelassen. Dabeisein ist alles, deswegen kann jeder an den Gay Games teilnehmen. Ob Weltmeisterin oder Amateur, Rollstuhlfahrerin oder HIV-Positiver, gay oder straight – bei den Gay Games darf jeder laufen, stemmen, tanzen.

Die ganze Stadt ist mit Regenbogenfahnen und den gelben Fahnen der Gay Games beflaggt. An den Straßenbahnen flattern die Wimpel der Gay Games, und an allen öffentlichen Gebäuden hängen die sonnengelben Transparente mit dem Motto der Spiele, „Friendship through Culture and Sports“. Es gibt kein Kaufhaus und keine Bank, die nicht das Schaufenster für die Spiele dekoriert haben. Und in der Innenstadt setzt die Polizei während der Spiele verstärkt lesbische Polizistinnen und schwule Polizisten ein.

So viele Besucher in Amsterdam fordern den Bewohnern der Stadt einen hohen Tribut ab. Ab morgens, 10 Uhr, quellen Menschenpulks durch die engen, mit Kopfstein gepflasterten Gassen der Innenstadt. Der Fluß der Homosexuellen, der sich tagsüber in den Straßen verläuft, verdichtet sich abends zu einer zähen, für Heterosexuelle undurchdringlichen Masse. Einige Straßen und Gassen sind jeden Abend abgesperrt, da Tausende von Menschen dort tanzen, trinken und sich drängeln wollen. Die Lesben schaffen es, die Wagenstraat und die Amstelstraat jeden Abend lahmzulegen, die Schwulen hingegen bevorzugen wechselnde Szenen und blockieren täglich eine andere Gasse. Die Amsterdamer Bürger nehmen dies gelassen hin. Trotz der Berge von Plastikbechern, die die Stadtreinigung jeden Morgen beseitigen muß, und der ständigen Geräuschkulisse von 250.000 aufgedrehten Schwulen und Lesben in ihrer Stadt pflegen die Amsterdamer eine herzliche Offenheit.

Amsterdam war die einzige europäische Stadt, die sich 1993 bei der Federation of Gay Games um die Austragung der Spiele beworben hat. Sydney war damals Konkurrent, konnte aber noch nicht gewinnen. Erst 2002 werden die 6. Gay Games dort stattfinden. Amsterdam hätte den Zuschlag wohl auch nicht bekommen, wenn nicht einige Privatleute sich dahintergeklemmt und ein Jahr an dem Präsentationsmaterial der Stadt gearbeitet hätten. Bürgermeister Patijn reiste dann eigens zur Auswahlentscheidung nach Vancouver, um dort seine Entschlossenheit, die Spiele in seine Stadt zu holen, kundzutun.

Als die Federation sich entschieden hatte, überwies die Stadt Amsterdam als erstes eine Million Gulden an das Organisationskomitee der Gay Games . Außerdem stellte sie den städtischen Sportbeauftragten für die Spiele ab, der fortan Sporthallen, Tanzsäle und Fußballfelder organisierte. Das Rijksmuseum und das Stedelijk- Museum sagten zu, sich nicht mehr ausschließlich um Rembrandt und Breughel zu kümmern, und organisierten Ausstellungen mit lesbischen und schwulen Künstlern aus aller Welt. Und die Direktion des Concertgebouw – immerhin einer der renommiertesten Konzertsäle der Welt – organisierte ein schwul- lesbisches Chorfestival während der Gay Games.

Die gemeinsame Anstrengung der Amsterdamer Bürger wird sich auszahlen. Die homosexuellen Besucher werden schätzungsweise 160 Millionen Gulden in der Stadt lassen. 50 feste Arbeitsplätze haben die Organisatoren der Gay Games in den vergangenen vier Jahren geschaffen. Dazu beigetragen haben auch die vielen Sponsoren, die allein 3,5 Millionen Gulden gaben. Mit einer halben Million Gulden ist die niederländische Fluggesellschaft KLM einer der größten Sponsoren, aber auch Levi Strauss, Schwimmausrüster Speedo, Kodak oder Avis wollten ihre Logos bei den Gay Games vertreten sehen. Noch einmal 3 Millionen Gulden schossen der niederländische Staat und die Europäische Union zu.

Mit einem großen Teil dieses Geldes haben die Veranstalter Lesben und Schwule aus unterentwickelten Ländern eingeladen. Denn klagen bereits die europäischen Besucher über die teuren „Pay Games“, könnten sich Menschen aus Zimbabwe oder Litauen eine Reise nach Amsterdam überhaupt nicht leisten. Die Veranstalter konnten 300 Lesben und Schwulen aus armen Ländern einen Aufenthalt in Amsterdam finanzieren. „Es ist wichtig, daß sie eine tolerante und offene Atmosphäre erleben und diese Erfahrung mit in Länder nehmen, in denen zum Teil Homosexualität verboten ist“, beschreibt Gay- Games-Organisator Paul van Yperen die Strategie der Veranstalter.

„Eigentlich denkt man ja als Lesbe, die Welt ist klein“, sagt Perdita Bokeer aus Südafrika, „aber hier hat sich mein Horizont erweitert – wir sind so viele!“ Perdita ist mit ihrer Freundin Prudence Mabele nach Amsterdam gekommen. Prudence wurde eingeladen und nutzt die Zeit in Amsterdam, um Vertreter der Internationalen Lesben- und Schwulen-Organisation kennenzulernen und ihre zukünftige Arbeit mit ihnen abzusprechen. In Pretoria hat Prudence ein Lesben- und Schwulenzentrum aufgebaut, in dem sich die junge Frau um HIV-Positive und Aidskranke kümmert.

In Südafrika ist Prudence eine berühmte Frau. Sie hat dort immer wieder Mißstände in der medizinischen Versorgung von Schwarzen aufgedeckt und unablässig Politiker bearbeitet, damit sich daran etwas ändert. Wegen ihres sozialen Engagements wurde sie für das Begleitprogramm zu den Sportveranstaltungen nach Amsterdam eingeladen. Da gibt es zum Beispiel das Story-Telling-Festival, in dem Schwule und Lesben von ihrem Coming-out in Ländern wie Nicaragua oder dem Iran erzählen. Außerdem nutzen die politischen Aktivisten die Zeit und das freie Umfeld, um Kontakte zu knüpfen und Erfahrungen auszutauschen – sich zu vernetzen.

„In Südafrika siehst du nie ältere Lesben“, sagt Perdita und schaut versonnen zwei Arm in Arm gehenden Frauen nach. Obwohl Südafrika die modernste Verfassung der Welt hat, die Homosexuellen ausdrücklich Gleichberechtigung garantiert, bleiben sie dennoch weitgehend unsichtbar. „Unter den Schwarzen ist es auch noch schlimmer als unter den Weißen“, meint Perdita. Für Frauen sei es schwieriger als für Männer, offen homosexuell zu leben. „Die Familien der schwarzen Frauen erwarten eigentlich irgendwann ein großes Hochzeitsgeschenk vom Bräutigam der Tochter, das bleibt bei Lesben natürlich aus“, erzählt Perdita. Als sie und Prudence in einer privaten Zeremonie geheiratet haben, haben ihre Familien eben nichts bekommen. Und zu dem materiellen Verlust sei dann noch die persönliche Schmach für die Familie gekommen, die sich um das Getratsche der Nachbarn sorgt. „Sie wollten es nicht einmal wissen“, erzählt Perdita, die mit ausladenden Armbewegungen jeden Satz unterstreicht. „Wir brauchen noch viel Zeit, um in Südafrika anerkannt zu werden.“

Die brauchen die homosexuellen Sportler und Sportlerinnen aus Deutschland allerdings auch noch. Während der britische Sportminister die Delegationen aus Großbritannien mit einer Grußadresse bedachte und viel Erfolg wünschte, die amerikanischen und kanadischen Botschaften ihre Sportteams zu einem Empfang baten, meldete sich aus Deutschland bislang einzig der Bezirksbürgermeister von Berlin-Kreuzberg mit einem Glückwunschtelegramm in Amsterdam. Und das, obwohl Deutschland zu den bei den Gay Games am stärksten vertretenen Ländern gehört. Der Berliner Thomas Zetzmann hatte je eine Bronzemedaille im 50-Meter-Rücken- und 50-Meter- Freistilschwimmen gewonnen.

Auf derartige Anerkennungen ihrer sportlichen Leistungen warten Chagit Rubinstein und Iris Mimrah jedoch ebenfalls vergebens. Nach jedem Korb schwenken die Ersatzspielerinnen die israelische Flagge. Und bei der Eröffnungszeremonie am Samstag mit 52.000 Teilnehmern im Stadion von Ajax Amsterdam war das Team aus Israel minutenlang weltweit im Fernsehen zu sehen, während die israelische Transsexuelle Dana International ihren Hit „Viva la Diva“ sang. „Das ist doch auch ein Sieg“, sagt Chagit.