: Der Fotograf und die Hausmeister der Hölle Von Ralf Sotscheck
Mit dieser Reaktion konnte niemand rechnen. Ich hatte Timothy lediglich einen kleinen Schokoladen-Weihnachtsmann angeboten, den ich beim Aufräumen im Küchenschrank gefunden hatte. Er war noch nicht mal sonderlich vergammelt. „Weihnachten“, schnaubte Timothy mit rotem Kopf, „erwähne mir gegenüber nie wieder dieses Wort!“
Nachdem ich ihm ein hochprozentiges Beruhigungszäpfchen verabreicht hatte, rückte er mit der Geschichte heraus. Im Dezember hatte er seine neue Freundin kennengelernt. Man plante ein romantisches Weihnachtsfest zu zweit. Am Heiligabend rief eine Religionsgemeinschaft an, die hier nicht identifiziert werden soll. Es ging um einen Fotoband, in dem gezeigt werden sollte, wie die Sektenmitglieder in aller Welt Weihnachten nach Landessitte feiern.
„Ich zog den kürzesten Strohhalm“, sagte Timothy, der freiberufliche Fotograf: „Helsinki.“ Fünf Stunden später war er in der finnischen Hauptstadt, die örtliche Sektensektion — vier Brüder in fortgeschrittenem Alter — war bereits informiert. Die Betbrüder hatten eine kleine Überraschung parat: Timothy, dem Iren, seien Saunafreuden wahrscheinlich unbekannt, so vermuteten sie. Das galt es zu ändern. Im Handumdrehen steckten sie den völlig übermüdeten Timothy in einen Glutofen. Als er beinahe gar war, holten die vier Höllenhausmeister ein paar Eschenzweige hervor.
„Ich mußte an den Kollegen denken, der bei der Auslosung Rio gezogen hatte“, meinte Timothy, „und der jetzt vermutlich mit einer Caipirinha an der Copacabana liegen würde, während ich von vier nackten Irren nach Landessitte mit Eschenzweigen ausgepeitscht wurde.“ Danach scheuchten sie ihn in den Schnee, der sich aufgrund der milden Temperaturen aber in Schlamm verwandelt hatte.
Nachdem er wider Erwarten auch den Sprung in den See überlebt hatte, wollte Timothy endlich das Foto machen. Finnen, so hatte man ihm erzählt, zünden am Heiligabend eine Kerze auf dem Grab ihrer Mutter an. Das sei schwierig, meinten die vier Fotografenbräter, die Mutter sei im Norden Finnlands beerdigt, sechs Stunden Fahrzeit. „Ich wollte mit dem nächsten Flugzeug nach Hause, um von der Beziehung und vom Weihnachtsfest zu retten, was noch zu retten war“, sagte Timothy, und so überredete er seine Fotoobjekte, eine Kerze auf irgendeinem Muttergrab, notfalls auch einer Andersgläubigen, zu entzünden. Doch offenbar ist es mit der Tradition in Finnland nicht mehr weit her. „Auf dem Friedhof brannte keine einzige Kerze“, stöhnte Timothy, „die Szene war für ein Foto denkbar ungeeignet.“ An einer Nachttankstelle besorgte er sich hundert Kerzen zum Nachttankstellenwucherpreis, erwürgte fast den Tankwart, der auf einen „romantischen Kerzenabend zu zweit“ getippt hatte, und montierte die brennenden Wachsprodukte auf hundert Gräber.
Endlich hatte er seine vier Peiniger mit weihnachtlicher Miene um ein passendes Grab inmitten des Kerzenmeeres gruppiert und sein Stativ aufgebaut, als er eine schwere Hand auf seiner Schulter spürte. „Jetzt nicht“, schrie Timothy, doch der Fremde ließ nicht locker: „Was machen sie denn hier am Grab meiner Mutter?“ Timothy hat das Flugzeug dann doch verpaßt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen