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„Dividenden statt Ausbildung“

■ Versicherungskonzerne bauen drastisch Ausbildungsplätze ab / Keine Übernahme nach der Lehre / Gewerkschaft HBV fordert überbetriebliche Ausbildung Von Kai von Appen

Hamburgs Handelskammer-Präsident Klaus Asche probte vor kurzem die Flucht nach vorn: Das von Gewerkschaften und Arbeitsamt prophezeite Lehrstellendesaster von 1000 fehlenden Ausbildungsplätzen in der Elbmetropole bezeichnete der Handelskammer-Chef als „Lehrstellen-Märchen“. Zur Zeit wären noch immer 800 Ausbildungsplätze unbesetzt, auf die sich nur 200 junge Frauen und Männer beworben hätten.

Die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherung (HBV) bleibt indes nach ihren Erfahrungen – trotz der Asche-Attacken – bei ihrer düsteren Prognose. Allein im Handelskammer-Bereich seien die Ausbildungsverhältnisse von 1990 auf 1994 um 25,8 Prozent auf derzeit noch 6.570 abgeschlossene Lehrverträge zurückgegangen – Tendenz fallend. HBV-Sekretärin Rita Linderkamp: „Die Wirtschaft wird ihr Versprechen nach Schaffung von 1000 zusätzlichen Ausbildungsplätzen in diesem Jahr nicht halten können.“

In der Tat zeigen Umfrageergebnisse immer deutlicher: Für Jugendliche sind derzeit das brennendste Problem die ungesicherte berufliche Zukunft und die Angst, keinen Ausbildungs- und – später – keinen Arbeitsplatz zu bekommen.

Rita Linderkamp fordert daher zumindest für das Versicherungsgewerbe „überbetriebliche Ausbildungszentren“. Ihrer Auffassung nach ist in der Versicherungsbranche das duale Ausbildungssystem – Betrieb/Berufsschule – gescheitert: „Die Versicherungen entziehen sich ihrer Verantwortung und sehen Ausbildung nur noch als Kostenfaktor statt als gesellschaftliche Verpflichtung.“ Denn: Nachwuchs werde in dem Gewerbe weiterhin gebraucht und dürfe nicht vom konjunkturellen „Auf und Ab“ abhängig sein.

Hintergrund des Vorstoßes: der besonders gravierende Abbau von Ausbildungsplätzen bei den großen Hamburger Versicherungskonzernen. Die verheerende Bilanz: So baute die Allianz-Versicherung ihre Ausbildungskapazität von 1993 bis 1995 von 69 auf 32 Ausbildungsplätze ab, der Deutsche Ring von 69 auf 28, die Hamburg-Mannheimer von 73 auf 47 sowie die Volksfürsorge von 36 auf 16 und die Gothaer von zehn auf fünf Lehrstellen. Lediglich die Iduna bildet unverändert pro Jahr 40 junge Männer und Frauen aus. Linderkamp: „Ein Rückgang, der durch die ökonomische Situation überhaupt nicht zu rechtfertigen ist.“ Die Versicherungskonzerne würden weiterhin satte Gewinne machen und allesamt ihre Dividenden für die Aktionäre erhöhen. „Wenn die Versicherungswirtschaft nicht mehr ausbildet, wer dann?“ fragt Rita Linderkamp.

Ein überbetrieblicher Lastenausgleich ist nötig

Für die Gewerkschafterin müssen neue Wege beschritten werden, um für Nachwuchs in dem Bereich zu sorgen und Jugendlichen eine Perspektive zu geben. Die mögliche betriebsexterne Ausbildung in Ausbildungszentren könnte ihrer Auffassung nach problemlos durch die Versicherungsgiganten finanziert werden. Motto: „Überbetrieblicher Lastenausgleich“. Im Klartext: „Wer nicht ausbildet, soll zahlen.“ Nur so könne die Wirtschaft dazu gedrängt werden, ihr Versprechen zu erfüllen und tatsächlich tausend zusätzliche Ausbildungsplätze in Hamburg bereitzustellen.

Aber auch an anderer Stelle bekleckern sich die Versichungskonzerne nicht gerade mit volkswirtschaftlichem Ruhm. Obwohl den jungen Frauen und Männern bei Ausbildungsbeginn vor zwei Jahren zugesagt worden war, mit einem Ausbildungplatz in der Versicherungsbranche einen krisenfesten Beruf gewählt zu haben, hat sich nach nur zwei Jahren das Blatt radikal gewandelt.

Nach einer HBV-Erhebung werden in diesem Jahr keine Auszubildenden nach der Lehre in ein reguläres Arbeitsverhältnis übernommen – mit Ausnahme der Jugendvertreter, die einen gesetzlichen Anspruch auf Weiterbeschäftigung haben.

Stattdessen werden Sechs-Monats-Zeitverträge – zum Teil im Außendienst als VertreterInnen – angeboten, wo dann auf Provisionsbasis Versicherungspolicen an Land zu ziehen sind.

So zum Beispiel bei der „Vofü“ (Volksfürsorge): Von 13 Azubis, die in diesem Jahr ausgelernt haben, werden nur zwei in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen. Davon ein Jugendvertreter und eine Auszubildende, die ihren Abschluß mit Note „1,0“ absolvierte. „Selbst Auszubildende, die gute Leistungen gebracht haben, werden nur in Zeitverträgen übernommen,“ berichtet die „Vofü“-Jugend- und Ausbildungsvertretung. Unter den „Azubis“ herrsche mittlerweile Angst: Einer habe 50 Bewerbungen geschrieben und sei nicht einmal zu Vorstellungsgeprächen eingeladen worden.

50 Bewerbungen geschrieben, aber nicht einmal eingeladen

Obwohl sich viele ältere MitarbeiterInnen, die zum Teil selber Kinder haben, für die Übernahme der Auszubildenden stark machen, habe sich kaum etwas bewegt. „Der Druck ist noch zu wenig“, so der Jugendvertreter: „Die Angst bei den Azubis aufzustehen und zu sagen: ,Ich will einen Arbeitsplatz' ist noch zu groß.“ Eine Ausnahme ist auch hier die Iduna: Sie wird alle ihre „Azubis“ übernehmen.

Eine ähnliche Entwicklung – wenngleich noch nicht ganz so kraß – registriert die HBV auch im Bankengewerbe. Linderkamp: „In der Tendenz geht es in die gleiche Richtung.“ Von 1993 auf 1994 seien die Ausbildungsverhältnisse von 1872 auf 1712 zurückgegangen. Ein Rückgang von 8.5 Prozent. Linderkamp: „Die Banken sind nicht ganz so flexibel. Die können keine Leute mit Zeitverträgen in den Außendienst abschieben. Bei den Banken wird daher in der Regel gar nicht übernommen.“

Die HBV wird sich aber nicht allein auf die Politik verlassen, sondern auch die eigenen Bataillone zur Durchsetzung der Übernahme mobilisieren. In den kommenden Monaten soll die Übernahme-Misere verstärkt in der Organisation und den Betrieben problematisiert werden. Mögliches Resultat: Eine Tarifvertragsklausel, die die Übernahme von Auszubildenden in Zukunft regelt und garantiert. Lindekamp: „In der letzten Tarifrunde hatten wir bereits eine entsprechende Forderung aufgestellt. Leider hat es damals nicht zur Tarifierung gereicht. Die Arbeitgeber haben lediglich eine unverbindliche Absichtserklärung abgegeben.“

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