Rußlands Finanzen brechen zusammen

In Moskau wird über eine Rubelabwertung spekuliert. Der Regierung sind die Schulden längst über den Kopf gewachsen, jetzt brechen die Finanzmärkte zusammen. Zeitung prophezeit bereits Sturz Kirijenkos  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Vor einem Monat stellten der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und der japanische Staat für Rußland ein Kreditprogramm von insgesamt 22,6 Milliarden US-Dollar zusammen. Der Schritt sollte der russischen Regierung Zeit geben, um ihre desolaten Finanzen endgültig in Ordnung zu bringen.

In dieser Woche aber zeigt es sich, daß die Investoren der russischen Regierung ihre Versprechungen gegenüber dem Internationalen Währungsfonds offenbar nicht abgenommen haben. Zwei Fragen beherrschen das Gespräch in Moskau: Wird die Regierung es schon bald nicht mehr schaffen, die von ihr in gewaltigen Mengen ausgegebenen kurzfristigen Staatsanleihen (T-Bills) einzulösen? Und wird der Rubel trotz aller Versprechungen nun doch abgewertet?

Zum ersten Mal seit Jahren hüpfte der Dollar-Wechselkurs des Rubel am Dienstag über die Wände des von der Zentralbank bestimmten Korridors. Außerhalb der vorgesehenen Spanne zwischen 6,241 und 6,296 US-Dollar kostete der Rubel plötzlich 6,32 US-Dollar. „Wir schätzen, daß der Handel der Banken untereinander mit Rubeln und ausländischen Valuten unter den Banken praktisch zum Stillstand gekommen ist“, sagte Sergej Alexaschenko, Vizechef der Zentralbank.

Gleichzeitig fiel der Dollar- Preis der fünfzig führenden russischen Aktien seit Montag im Durchschnitt um 25 Prozent. Die Wertpapierpreise liegen damit unter ihrem Stand im Sommer 1996, kurz nach den letzten Präsidentenwahlen. Präsidentenberater Alexander Lifschitz versicherte alarmiert, daß die Regierung „genügend Geld“ habe, um all ihre Schulden im nächsten Monat zu bezahlen“. Gleichzeitig sah sich Finanzminister Michail Sadornow auf einer Pressekonferenz gezwungen offenzulegen, woher dieses Geld stammt — nämlich aus jener Zahlung des Internationalen Währungsfonds, die ausdrücklich zur Regulierung des Finanzmarktes bestimmt war. Eine Milliarde Dollar aus dieser Summe soll jetzt die gefährlichsten Löcher im Staatshaushalt stopfen.

Schulden werden mit IWF-Milliarden getilgt

Noch einmal wird es also der Regierung im August gelingen, die fällig gewordenen T-Bills auszulösen. Allein die Schuldenzinsen der russischen Regierung machen heute schon ein Drittel des Staatshaushaltes aus. Letzten Monat scheiterte der Versuch, Zahlungen für reif gewordene T-Bills durch den Verkauf neuer Staatsobligationen zu finanzieren. Niemand wollte sie mehr haben. Die Privatisierung der letzten Staatsunternehmen könnte Rußland noch ein paar solide Haben-Posten einbringen. Diesen Sommer zerschlug sich aber die Hoffnung, 75 Prozent plus eine Aktie der staatlichen Erdölgesellschaft Rosneft auf den internationalen Markt zu bringen.

Um liquide zu bleiben, hat das Kabinett Kirijenko außer der Aufnahme erneuter Anleihen noch die Möglichkeit, Staatsbetriebe zu privatisieren und weitere Steuern einzutreiben. Das Ziel, im Monat August 13,5 Milliarden Rubel in die Kasse zu bekommen, wird die Steuerbehörde zwar auch nicht ganz erfüllen können, aber 12,5 Milliarden sind ihr so gut wie sicher. Für Rußlands Steuerinspektoren ist dies schon eine unerhörte Erfolgsrate. Der neue Chef der Steuerbehörde, Boris Fjodorow, führt dies auf die Entschlossenheit zurück, mit der man diesmal den bisher heiligen Kühen unter den russischen Großmonopolen ans Säckel ging, zum Beispiel der Erdgas-Gesellschaft Gasprom und dem Eisenbahnministerium.

Verdacht gegen Zentralbankführung

Die Tageszeitung Nesawisimaja Gaseta deutete gestern an, daß gerade die derart Betroffenen die Destabilisierung der russischen Aktienmärkte verursacht haben könnten. „Wenn man die Wertpapierpreise sieht, könnte man meinen, daß es im Lande zu Straßenunruhen gekommen sei. Oder daß die Atombombe außer Kontrolle geraten sei“, hieß es. Da beides aber nicht der Fall ist, bot die Nesawisimaja eine weitere Erklärung an: Die Zentralbankführung habe sich mit „einflußreichen und äußerst mächtigen politischen Kräften“ verbündet, deren Wunsch, die Regierung zu stürzen, „übergroß sei“. Da die Zentralbank mit den von ihr abhängigen Sparkassen und anderen Geldinstituten 66 Prozent der Staatsanleihen besitze, sei es ihr ein Leichtes gewesen, den Markt diese Woche mit diesen Papieren zu überschwemmen und den stetigen Fall aller übrigen Aktienkurse in einen Absturz zu verwandeln. Die Prognose der Nesawisimaja Gaseta: „Wahrscheinlich wird vor Ende August auch die Regierung Kirijenko stürzen.“