Seltsame Wege zum Warzentod

Es kommt der Tag, da hilft kein Leugnen und kein Verdrängen: Da ist etwas. Eine Veränderung der Haut. Ein Glück, wenn es sich nur um eine Warze handelt und nichts Böses ist. Obgleich die Warze schon als Inkarnation des Bösen gilt. Ist sie doch Attribut jeder properen Hexe. Die einzige Frage bei Warzenbefall aber ist: Wie wird man sie wieder los?  ■ Von Reinhard Krause

Zunächst war nicht recht auszumachen, was da sehr langsam an meinem Hals wuchs. Entschlossen machte ich beim Rasieren einen Umweg und fuhr mit Schmiß über die häßliche kleine Stelle hinweg: Blut! Tags darauf konfrontierte mich mein Frisör mit der indiskreten Frage, ob „das da am Hals“ etwa eine Warze sei und ob ich womöglich daran herumgeschnippelt hätte. Kleinlaut gestand ich. „Das ist das Schlimmste, was du tun kannst“, erwiderte er und entwarf knapp ein Szenario sich aufwerfender und ausstülpender Tochtergeschwülste.

Nunmehr von der Notwendigkeit zum Handeln überzeugt, machte ich einen Termin bei meinem Homöopathen. Warum brennen und schneiden, wenn ein paar Zuckerkügelchen die gleiche Wirkung haben können und nicht einmal Narben hinterlassen? Eine Gabe von Causticum, dem homöopathischen Warzentod schlechthin, führte jedoch zu gar nichts. Was also tun? Nach einem weiteren Fehlversuch gab mir der Arzt den unbekümmerten Rat, das inzwischen auf unansehnliche Größe gewachsene Ding mit einem Fingernagelknipser einfach abzukneifen.

Großer Gott! Im Geiste sah ich mich bereits ohnmächtig im Badezimmer liegen. Ansonsten, lenkte mein Arzt ein, bleibe mir natürlich immer noch die Möglichkeit, die Warze besprechen zu lassen. Ich hörte mich um und stieß auf wahre Abgründe aus Aberglauben und offenbar verzweifelten Selbstversuchen.

In der abendländischen Kunst des Wahren, Guten und Schönen hat die Warze bestenfalls als Requisite des Bösen eine kleine Karriere gemacht. Man denke nur an die von Warzen verunzierte Hexe. Dabei besitzt die Warze durchaus eine gewisse ästhetische Wirkungsmacht, die aus dem Charakter des Parasitären erwächst: Die Warze signalisiert das Fremde im Eigenen, den Feind im (Abwehr-)System.

Welcher Laie kann bei einer Warze schon genau bestimmen, wo das gesunde Fleisch aufhört und wo die Wucherung anfängt? Kaum ein anderes körperliches Mal transportiert so sinnfällig Besessenheit, die – zumindest partielle – Inbesitznahme durch ein fremdes Prinzip. Kein Wunder also, daß die Beseitigung von Warzen als eine Art Exorzismus zu begreifen ist.

Erstaunlicherweise jedoch hat sich die Literatur nie recht für die Genesung vom Fremden und Bösen interessiert. Was böse war, hatte böse zu bleiben und als solches unterzugehen. Hexen verbrannte man lieber komplett, als daß man es zunächst einmal mit ihren Warzen versucht hätte. Zwar büßten die Hexen durch die fortschreitende Säkularisierung auch in der Kunst viel von ihrer behaupteten antichristlichen Vehemenz ein und wurden am Ende geradezu niedlich – ihre Warzen aber blieben. Die Warze verkam zur bloßen Chiffre des instinktiv Abstoßenden. Die moderne Mikrobiologie schließlich nahm der Warze auch noch den letzten abseitigen Glanz, indem sie in ihr nichts weiter erkannte als eine eher harmlose Virusinfektion.

Doch halt! Immerhin gibt es die Abenteuer des Tom Sawyer und die wohl berühmteste Warzenepisode der Weltliteratur. Mark Twain war der erste, der die Warze aus ihrer Beschränkung aufs Häßliche befreite und ihr in seinem Roman Relevanz zuwies. Hätte Huckleberry Finn keine Warze gehabt – der Leser erfährt leider nie, wo – und hätte er sie nicht loswerden wollen, hätten er und Tom Sawyer nimmer den mitternächtlichen Friedhofsmord beobachtet. Alles wäre dann anders gekommen: Muff Potter wäre gehängt worden und Indianer-Joe ungestraft davongekommen. Einzig dank Hucks Warze also siegte die Gerechtigkeit.

Der an der Beseitigung von Warzen interessierte Leser freilich kommt nicht ganz auf seine Kosten, denn Twain erwähnt mit keiner Silbe, ob die Warzenkur bei Huck Finn nun anschlug oder nicht. Schade, denn die von Huck und Tom diskutierten Verfahren, sich einer Warze zu entledigen, sind überaus aufwendig und schon deshalb nicht zur Nachahmung zu empfehlen.

Methode eins (Hucks Version): Man halbiert eine Bohne und schneidet mit einem Messer die Warze an. Mit dem austretenden Blut ist nunmehr eine der beiden Bohnenhälften zu tränken. Bei Neumond und Schlag Mitternacht muß diese Hälfte auf einem Kreuzweg vergraben werden. Die andere Hälfte wird verbrannt. Die blutige Bohnenhälfte zieht dann – wie auch immer – die verbrannte Hälfte zu sich wie das Blut der Warze. Nicht ganz so obskur ist Methode zwei (Toms Version): Man begibt sich um Mitternacht zu einem verfaulten Baumstumpf im Wald. Diesem nähert man sich rückwärts, taucht die von Warzen befallene Hand ins brackige Wasser, das sich im Baumstumpf befinden sollte, und spricht die Beschwörungsformel: „Gerstenkorn, Gerstenkorn, hier an diesem Ort, faules Wasser, faules Wasser, nimm die Warzen fort!“ Der schwierige Teil kommt noch: Vom Baumstumpf entferne man sich, indem man elf Schritte macht und sich dabei dreimal um sich selbst dreht.

Zum Glück für Muff Potter einigen sich Tom und Huck jedoch auf Version drei: Hierzu benötigt man allerdings eine tote Katze, und an diesem Utensil wird es den meisten hiesigen Warzenpatienten mangeln. Hat man jedoch einen Katzenleichnam aufgetrieben, so heißt es auf den Tag warten, an dem ein ausgemachter Schurke beerdigt wird. Pünktlich um Mitternacht wird die Seele des Bösewichts von einem Teufel aus dem Grab geholt. Diesen Moment gilt es abzupassen, um dem Teufel die tote Katze mit den Worten nachzuwerfen: „Der Teufel folgt dem Toten, die Katze dem Teufel, die Warzen der Katze, und ich bin frei.“ Frei von Warzen vielleicht, aber gewiß nicht mehr frei von einer tiefsitzenden Kadaverphobie.

Aller Spinnerei zum Trotz lassen sich aus Toms und Hucks Gespräch über Warzen die drei tragenden Säulen einer erfolgreichen Warzenbeschwörung herausfiltern. Die wichtigste Voraussetzung ist ein Stellvertreter, der die Warze übernimmt. Aus mitmenschlicher Rücksichtnahme, vermutlich aber auch zur Steigerung des Weihegrades bedient man sich hierzu gerne eines bereits toten Lebewesens, das idealerweise mit der Warze zu bestatten ist. Damit einher geht zweitens ein Moment, das unter Umständen zur Heilung regelrecht erwünscht ist, zumindest jedoch billigend in Kauf genommen wird: ein Gefühl des Ekels. Die Warze wird von einem noch scheußlicheren Gegenstand übertrumpft, der Teufel also quasi mit dem Beelzebub ausgetrieben. Und drittens scheint ein Brimborium christlicher oder mystischer Provenienz vonnöten zu sein, um dem hartnäckigen Feind mit Autorität entgegentreten zu können.

Daß der fortgesetzte Umgang mit kirchlichen Insignien im Umkehrschluß jedoch kein verläßlicher Schutzschild gegen Warzen darstellt, erfuhr ich am Tag meiner Konfirmation. Für das obligatorische Gruppenfoto mußte ich mich auf den Stuhl direkt hinter dem Pastor stellen. Und da sah ich sie auf einmal vor mir, mitten auf dem blanken Schädel des Pastors: eine schwammartig aufgeworfene, weiche Geschwulst, dem Krater eines Vulkans nicht ganz unähnlich, häßlich, strotzend und hautfarben. Schwindel ergriff mich.

Nicht etwa, daß ich vorher nie Warzen zu Gesicht bekommen hätte. Im Gegenteil, eine Fußwarze hatte ich einen Sommer lang mit allem gelbblühenden Unkraut bekämpft, das mir in die Quere kam. In einem alten Volksbrockhaus hatte ich nämlich den Hinweis entdeckt, daß der Saft aus dem Stengel des gelbblühenden Schöllkrauts ein gutes Warzenmittel abgebe. Leider blieb die Brockhausredaktion der fünfziger Jahre eine Abbildung dieser ominösen gelben Blüten schuldig.

Meine Großmutter gefiel sich irgendwann in dem dunklen Ausspruch, sie an meiner Stelle würde den Fuß zum Geläut einer Totenglocke in einem Bach waschen. Eine Variante, die wegen des fehlenden Ekelmoments als geradezu aufgeklärt gelten darf. Mit den nötigen Beschwörungsformeln wollte meine Oma partout nicht herausrücken. „Du glaubst ja doch nicht daran.“ Mir blieb nichts anderes übrig, als die Warze vom Hautarzt mit einer Quarzlampe verbrennen zu lassen, was fürchterlich stank und die Warze erst einmal auf doppelte Größe anwachsen ließ, bevor sie endlich verschwand.

Von einer anderen alten Dame wird mir berichtet, daß sich ihr Vater, ein Sargtischler, zur Zeit der Jahrhundertwende ein saftiges Zubrot verdient habe, indem er Menschen mit Warzen die Gelegenheit verschaffte, diese Warzen mit den Körpern von Dahingegangenen in Berührung zu bringen. Einmal an einer Leiche entlanggerieben, verschwanden die Warzen wie von Geisterhand. Nun mag dies Vorgehen noch eine angemessene Lösung bei Fingerwarzen sein, für meinen Pastor jedoch wäre diese Variante vermutlich ebenso inakzeptabel gewesen wie für mich mit meiner Warze am Hals.

Weit angenehmer, ja langweilig ist dagegen die zeitgemäße, warenwirtschaftlich geprägte Methode: das Abkaufen von Warzen. Als Problem erweist es sich jedoch, einen willigen Käufer zu finden. Völlig unkompliziert hingegen ist das Verfahren, einen Zwirnsfaden mit so vielen Knoten zu versehen, wie Warzen vorhanden sind, und diesen dann in einer Vollmondnacht zu begraben. Auch hier hält sich der Ekel in Grenzen – wie auch der Erfolg.

Ebenfalls unempfindlich reagierte mein Körper auf die Carmen-Thomas-Mit-eigenem-Urin- Betupfen-Methode. Die putzigste „Hilfestellung“ zum Thema fand ich am Ende in einem Reiki-Ratgeber. „Warzen“, heißt es dort süffisant, „zeigen dir, daß du etwas in dir als häßlich empfindest, etwas, wofür du dich schuldig fühlst. Wenn du das endlich erkennst, brauchst du auch keine Warzen mehr.“ Danke. Wenn meine Warze in einer Woche immer noch nicht verschwunden ist, gehe ich zu einem Hautarzt, wie weiland die von ihrem splissigen Haar entnervte Frau zu Monsieur Jacques ins Gard-Haarstudio eilte: „Herr Doktor, meine Warze! Schneiden Sie sie ab!“ Und wehe, der sagt dann: „Mais non!“