: Anheizen und Ausweiden
Vor zehn Jahren besiegelte das Medienspektakel der Geiselnahme von Gladbeck den neuen Pakt zwischen Outlaw-Journalismus und Mainstream-Entertainment ■ Von Georg Seeßlen
Wie so vieles, was uns umtreibt und entsetzt, hat auch dies eine seiner Ursachen in Projekten der Spät- und Post-Aufklärung: die Information um jeden Preis, das schnelle und schamlose Abbilden dessen, was sich als Wirklichkeit vor den avancierten Aufnahmemaschinen abspielt. Die Idee eines teilnehmenden Journalismus, der nichts mehr wollen kann, als bedingungslos im Geschehen selbst zu sein, gleichgültig ob es sich um ein Sandbahnrennen oder um einen Krieg handelt, entwickelte sich in den 70er Jahren als denkwürdiges Gemeinschaftswerk von Pop-Kultur und traditionellen Medien. Der amerikanische Journalist Hunter S. Thompson war der erste grandiose Vertreter respektive Erfinder des „Gonzo-Journalismus“, in dem sich der Berichterstatter nicht mehr auf irgendeine Objektivität zurückzog. Dabeisein, Mittun, Schreiben, Reflektieren waren eins. Es entstanden Texte, die die Droge brauchten, und die selbst wie Drogen wirkten.
Daß diese Art von Journalismus, auch von der Linken akzeptiert und bewundert, reüssieren konnte, lag nicht nur an der durch Rock und Drogen forcierten Gier nach dem Sensuellen. Es war ein Journalismus, der die Zusammenhänge nicht konstruierte, sondern allenfalls aus dem direkten Erleben spüren ließ. Daß die Welt in Fragmente zerfallen war, die zueinander nicht mehr paßten, war ihr erst einmal nachzuweisen, wenn's sein muß anhand der Scherbenschnitte im eigenen Fleisch. Bei einem Meister wie Thompson schien dabei die Grenze zwischen dem Erlebten, Geträumten und Erfundenen zu verschwimmen; der heftige Text der subversiven Authentizität schien das alles zu entschuldigen. Und Angriffsziel des Gonzo-Journalismus war neben der Wirklichkeit immer auch das eigene Medium.
Aber auch die unbestrittene ästhetische und politische Qualität des Gonzo-Journalismus der 70er Jahre hätte allein nicht ausgereicht, ihn auch in der bürgerlichen Presse akzeptabel zu machen. Seine Authentizität wurde nicht zuletzt durch eine gehörige Portion Selbstzerstörung erschaffen und war vor allem Ausdruck eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs: Die letzten großen Projekte zur gesellschaftlichen Selbstverbesserung schienen gescheitert, die Woodstock-Nation war zerfallen, die politische Revolte zersplitterte sich, die großen Pop-Heroen starben den Drogentod, und die Mainstream-Kultur amüsierte sich, als wäre nichts geschehen. Weil etwas Ganzes nicht mehr zu sehen war, die Parteilichkeit der Beobachtung entweder absurd oder militant paranoid werden mußte, und weil sich die großen Erzählungen, auch die des Marxismus, innerlich zersetzten, konnte Wahrheit nur mehr in der manischen Beobachtung des Details gesucht werden. Auch die Helden des „investigativen Journalismus“, die Heroen von Watergate, konnten ja nur noch die furchtbarsten Sünden des Systems aufdecken, es durchschaubar machen konnten sie nicht. Im Gegenteil: Sie waren schon Kino, bevor Dustin Hoffman und Robert Redford sie im Film darstellten.
Natürlich hat nun keineswegs alles, was sich dann in den 80er Jahren als neuer Sensationsjournalismus etablierte, als der Terror der Gegenwärtigkeit in den Medien, seinen Ursprung in der subversiven Verzweiflungsschreibe des Gonzo-Journalismus. Im Gegenteil: Die neuen Techniken, die sich auch im Film entwickelt hatten – befördert nicht zuletzt durch das schnellere Material Video – verbündeten sich sehr schnell zum einen mit den Gesetzen des Massenmarktes der Bilder und Informationen und zum anderen mit den moralischen Standards des Mainstream. Nun ging es darum, aus der Wirklichkeit Entertainment zu machen, und je mehr Wirklichkeit, desto mehr Entertainment.
Die Stärken des Gonzo-Journalismus ebenso wie die des in der Tradition der Aufklärung ungleich unverdächtigeren investigativen Journalismus lagen gewiß in der Fähigkeit, genau dort aufzutauchen, wo der gesellschaftliche Konsens und das System der Macht sie weder erwarteten noch haben wollten. Es war ein Outlaw- Journalismus, einmal in einer dunklen, emotionalen, und einmal in einer hellen, rationalen Form. Philip Marlowe meets Robin Hood. Doch in den 80er Jahren fraß der Mainstream den Outlaw- Journalismus. Er korrumpierte seine Vertreter, er zerstörte die Kultur, die ihn trug, er imitierte seine Methoden, er schlug ihn mit den eigenen Waffen. Und er konnte statt der Personen seine Technik und sein Geld einsetzen.
Der mediale Mainstream drehte ganz einfach die Blickrichtung des Outlaw-Journalismus um. Objekt der Gonzo-Begierde waren nun nicht mehr die Machination der Macht und die absurden Rituale von Alltag und Entertainment, sondern das Beherrschen der Wirklichkeit selbst. Der Journalist bot sich nicht mehr selbst als Opfer an, er suchte sich das Opfer. Reality-TV und Paparazzo-Journalismus, die die rechten Erben des „linken“ Outlaw-Journalismus wurden, waren nicht mehr daran interessiert, die Wirklichkeit in der Inszenierung zu erkunden, sondern sie machten die Wirklichkeit selbst zur Inszenierung. Statt in sie einzudringen, verschärften sie nur ihre Präsentation, und statt sie zu enttarnen, verhalfen sie der Inszenierung durch ihren Authentizismus zur populistischen Doppelung. Ihre Kunst besteht darin, all das in den Rang der Sensation zu erheben, was dem Mainstream an Gewißheit schon serviert wurde. Und an die Stelle des Outlaws als persönlichem Helden trat die Macht des Mediums: Es ist nicht mehr ein Autor, der in die Räume der Intimität, des Schmerzes, der Gewalt, der Absurdität eindringt, es sind nur noch Kameras da und die Grinsegesichter der Anchormen und Moderatorinnen.
Besiegelt wurde der neue Pakt zwischen Outlaw-Journalismus und populistischer Medienmacht hierzulande wohl durch das Medienspektakel der Geiselnahme von Gladbeck. Schamlos wie einst Dr. Gonzo und Hunter S. Thompson drang man in das Innere eines Dramas ein, das zwar für sein eigenes Gelingen (im Sinne der Täter) die Öffentlichkeit benötigte, aber keine teilnehmende Berichterstattung wurde daraus, sondern das Anheizen und das Ausweiden der Geschehnisse. Was auf dem Weg vom Outlaw-Journalismus zum populistischen Reality-TV vollkommen verloren gegangen war, war jede Fähigkeit zum Mitleid, jeder Respekt vor den Gefühlen der beteiligten Menschen und nicht zuletzt die hohe Kunst des Outlaw- Journalismus, die auch seine krudesten Beispiele geadelt hatte: die Fähigkeit, in der wahrhaft hautnahen Nähe zum Geschehen immer auch die Situation des Beobachtenden selbst zu reflektieren. So erschraken wir, vielleicht zum ersten Mal in diesem Ausmaß, mehr noch als vor der Brutalität der Ereignisse vor der Brutalität der Medien und derer, die sie bedienen. Es war wie ein Aufwachen.
Am 16. August 1988 unternahmen Jürgen Rösner, Dieter Degowski und Marion Löblich einen Banküberfall in Gladbeck. Als er scheitert, nehmen sie zwei Angestellte als Geiseln, verlangen und erhalten ein Fluchtauto und 300.000 Mark. In Bremen kapern sie einen Linienbus und geben die ersten Interviews. Sie ermorden den 15jährigen Emanuele di Giorgio und behalten die 18jährige Silke Bischoff als Geisel. 54 Stunden lang ziehen sie eine „Blutspur“ durch Deutschland und die Niederlande. In der Kölner Innenstadt geben sie, die Pistole am Kopf der Geisel, neue Interviews. Ganz nah halten Kameras und Fotoapparate auf die übermüdeten, paranoiden Gesichter der Täter, denen man ansieht, daß sie sich nur noch in ihrem eigenen grotesken Gangsterfilm befinden, und auf das hübsche, von entsetzlicher Angst gezeichnete Gesicht der jungen Frau. Neben die Reporter drängen sich „schaulustige“ Passanten. Man will um jeden Preis mit in diesem Gangsterfilm sein, der die Wirklichkeit ist; die Konkurrenz der Mikrofone und Kameras kümmert sich einen Dreck um das Leben der Beteiligten. In den Gesichtern der Reporter ist eine Geilheit zu beobachten, vor der man kotzen möchte.
So zieht sich eine Karawane über die Autobahn, das Fluchtauto, die Polizei und die Reportagewagen, die, wenn es nicht um Menschenleben gegangen wäre, etwas erhebend Komisches gehabt hätte. Wir kennen diese Bilder aus amerikanischen Filmen. Doch nicht kinomäßige Bonny and Clyde auf Speed sind da unterwegs, sondern kaputte Soziopathen, denen niemand auch nur zu helfen versucht, aus ihrem Gangsterfilm auszusteigen. Ein Journalist lotst sie auf die Autobahn, schließlich wird Silke Bischoff bei einer Schießerei aus fahrenden Autos getötet.
Es ist, als hätten auch die Polizisten in diesem Gangsterfilm um jeden Preis die Rolle gespielt, die ihnen darin zukommt: Ballern und die Gangster nicht entkommen lassen. Das Geschehen hatte alle Beteiligten offenbar unter einen hysterischen Offenbarungszwang gesetzt, endlich war er da, der erlebbare und spielbare Mythos, komplett mit der blonden Jungfrau im Zentrum. Aber wieder obsiegte
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die Wirklichkeit über diesen Mythos (und eben diese Erfahrung schien es zu sein, die den hysterischen Wettlauf der Beteiligten mit ihren Medienbildern beschleunigte): Das Mädchen wurde nicht gerettet, sondern geopfert. Und das für einen höheren Mythos: für das Kapital. Anders jedenfalls ist es äußerst schwierig, die für die Geisel schon beinahe tod-sichere Form des „Zugriffs“ zu verstehen – eine Entscheidung für eine Summe, die unsere Freunde, die Bankiers, an anderem Ort unter großem Gelächter als „Peanuts“ bezeichneten.
So also, wie ein Jahrzehnt zuvor die Aktionen der RAF und der staatliche Gegenschlag als Metapher für den Zustand des Landes dienten, so diente nun diese Geiselnahme und ihr tödlicher Ausgang als Metapher. Doch anders als zuvor herrschte nun nicht mehr eine Phantasie von Untergrund, Verkleidung und „Sympathisantensumpf“ vor, sondern die denkbar radikalste Form von Öffentlichkeit. Die Sichtbarkeit war Auslöser der Rache des Mainstreams an seiner Verunsicherung. Und anders als zuvor reagierten die Medien nicht mehr, sondern krallten sich von Anbeginn an in das Geschehen. Noch einmal also wiederholte sich der Umschlag von der Beobachtung zur Teilhabe, diesmal nicht mehr von „links“, sondern von rechts. Weil auch dem Mainstream jedes gesellschaftliche Projekt, außer der Selbsterhaltung, abhanden gekommen war, richteten seine Medien den Blick vom großen Ganzen (jener „heilen Welt“, die wir einst bespöttelten) auf das blutige Detail. Und dieser Blick produzierte förmlich die Bilder diffuser Wünsche und Ängste.
Es war deutlich, daß man diese Gangster auch bewunderte, nicht so sehr für das, was sie taten, sondern dafür, wie sie es verstanden, ins Fernsehen zu kommen. Diese Gangster flohen, anders als die „Terroristen“, nicht in den Untergrund, sondern in die Öffentlichkeit, nicht in den Mythos der Konspiration, sondern ins Entertainment. Sie waren die Schauspieler ihrer selbst. Und das unterschied sie kaum vom Quiz-Kandidaten, der sich als hero for a day genießt.
Das alles hatte also zugleich geklappt und nicht geklappt. Die ganze Geschichte produzierte alles mögliche, nur keine Moral. Und die Mischung aus Faszination und Entsetzen erzeugte sogleich den furchtbaren Katzenjammer. In der nächsten Runde des Medienspektakels standen nicht mehr die Gangster, sondern die sensationslüsternen Reporter und die unbarmherzigen Gaffer unter Anklage. Was, ganz nebenbei, eine willkommene Ablenkung von den vielen konkreten Fehlentscheidungen in diesem „Fall“ war. Dieser Ablauf wird in der Folgezeit fester Bestandteil der Inszenierung des Medienspektakels. Auf die Produktion der Sensation folgt die Sensation der Produktion, auf die Bildergeilheit der moralische Ennui (so etwas wie die Zigarette danach). Im Jahr 1988 geschieht dies freilich noch etwas langsamer als wir es heute kennen, etwa beim Unfall von Lady Diana. Und jetzt, 10 Jahre danach, kehren die Medien mit Filmen und Dokumentationen an den Tatort zurück wie ein abgeklärter Kommissar an den Ort, wo er seine Dienstmarke in den Dreck geschmissen hat.
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