Schröders Stern sinkt nicht

■ Kann die Union den Vorsprung der SPD noch aufholen? Dieter Roth, Chef der Forschungsgruppe Wahlen, über neue Umfrageergebnisse, die Aussicht einer großen Koalition sowie die Chancen von FDP und PDS

taz: In den jüngsten Umfragen stagniert oder verliert die SPD, die Union legt leicht zu. Wird die Bundestagswahl noch einmal spannend, oder möchten die Medien nur, daß sie spannend wird?

Dieter Roth: Die Wahl bleibt spannend, weil ihr Ergebnis sehr stark davon abhängt, wie die kleinen Parteien abschneiden. Schafft die PDS den Sprung über die Fünfprozenthürde? Schafft sie es über Direktmandate ins Parlament? Kommt die FDP in den Bundestag? Diese Fragen sind alle offen.

Bleibt die Wahl auch in der Frage spannend, wer am 27. September gewinnt?

Daß sich die beiden großen Parteien kurz vor einer Bundestagswahl immer weiter annähern, ist ganz normal. Die überhöhten Stimmungswerte für die SPD im Frühjahr von 46 oder 47 Prozent mußten ja irgendwann zurückgehen. Das hängt vor allem mit den strukturellen Bindungen der Wähler zusammen. Viele erinnern sich, je näher der Wahltag rückt, ihrer sozialen Bindungen, ihrer Sozialisation und ihrer ursprünglichen politischen Nähe zu einer bestimmten Partei. In diesen Punkten hat die CDU/CSU gegenüber der SPD strukturelle Vorteile.

Wenn man Helmut Kohl und die Union in diesen Wochen so sieht, fragt man sich trotzdem ernsthaft: Warum legen die zu?

Ein halbes Jahr vor einer Wahl können wir nur Stimmungen in Form von Unzufriedenheit, Enttäuschung oder auch positiven Erwartungen messen. Was wir ein paar Monate später erfassen, sind Wahlabsichten, und unmittelbar vor einer Wahl ist es vielleicht schon das potentielle Wahlverhalten. Die Leute geben sich jetzt nicht mehr ihren Stimmungen hin, sondern erinnern sich ihrer politischen Bindungen. Da legen CDU und CSU fast zwangsläufig zu.

Kohl aber setzt genau auf die Stimmungen. Die jüngste Umfrage des Allensbach-Instituts, die einen tiefgreifenden Stimmungswandel in der Bevölkerung feststellt, nannte er „ganz hervorragend“ – und das, obwohl CDU/CSU in derselben Umfrage bei den Zweitstimmen auf nur 33,0 Prozent kam und die SPD auf 43,8. Ist Kohls Optimismus berechtigt?

Von den Zahlen her nicht. Die politische Stimmung hat sich leicht verändert, aber nicht so dramatisch, daß Kohl irgendeinen Vorteil daraus ziehen könnte. Auch die günstigeren Wirtschaftsdaten helfen der Union nicht besonders. Ihre Wirtschaftskompetenz hat sie an die SPD verloren. Das sind alles keine Entwicklungen, die vergleichbar wären mit 1994.

Schröders Stern, so werden die jüngsten Umfragen interpretiert, sinkt ebenso wie das Vertrauen in die SPD. Teilen Sie diese Ansicht?

Schröder hatte im Frühjahr eine glänzende Ausgangsposition. Sie war so ungewöhnlich, daß die Umfragewerte gar nicht zu halten waren. Schröder führt in der Kanzlerfrage jetzt immer noch mit einem Vorsprung von 21 Prozentpunkten. Das hat es zu einem vergleichbaren Zeitpunkt für einen Oppositionskandidaten noch nie gegeben. Selbst wenn diese Zahlen zurückgehen – es kann keine Rede davon sein, daß hier ein Stern sinkt.

Was entscheidet die Wahl in den letzten sechs Wochen?

Auf jeden Fall nicht der Gladiatorenkampf der beiden großen Parteien. Ob es zu einer großen Koalition oder zu Rot-Grün kommt, hängt allein von FDP und PDS ab. Wenn eine der beiden Parteien den Einzug ins Parlament nicht schafft, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer rot-grünen Regierung sehr hoch.

Wie stehen die Chancen von FDP und PDS?

Die PDS hat im Osten ihr Potential mit 20 Prozent so gut wie ausgeschöpft. Sie müßte im Westen zulegen, um die Fünfprozenthürde zu nehmen. Dafür gibt es im Moment keine Anzeichen. Sie wird darauf angewiesen sein, über drei Direktmandate in den Bundestag einzuziehen. Die FDP hat nicht das Potential, aus eigener Kraft über fünf Prozent zu kommen. Sie wird aber nur dann taktische Wähler aus dem Unions-Lager gewinnen, wenn diese den Eindruck haben, daß die jetzige Koalition nicht chancenlos ist. Für die FDP bleibt es bis zum Schluß eng.

Wahlforscher lassen sich ungern zu persönlichen Prognosen überreden. Kann ich Ihnen eine entlocken?

Ich weiß das Ergebnis doch auch nicht! Die Alternative wird sein: entweder große Koalition oder Rot-Grün. Für die bisherige Regierungskoalition wird es nicht reichen. Interview: Jens König