piwik no script img

Das ist mir passiert!

■ Schauplätze des Schicksals: Magazine, die drucken, was ihre Leser bewegt, helfen dem Soap-Junkie auch ganz ohne Video über den Urlaub

Rico Steinbeck aus Limbach ist bewegt. Deshalb beschreibt er 90 Zeilen lang, wie er einmal 18 Meter hilflos in die Tiefe stürzte. Das Live Journal druckt das dann. Mit Fotos: „Hier fiel ich runter. Auf dem Bild habe ich den 18-Meter-Sturz vom Dach eingezeichnet“, „ich und mein Hund. Er ist froh, daß ich diesen Unfall lebend überstanden habe.“ Bewegend! Bewegend ist auch die Geschichte von M. Huth aus Berlin: „Das ist mir passiert... In Spanien machten wir eine unglaubliche Entdeckung!“ Die unglaubliche Entdeckung von Frau Huth geht dann so: „Als der Fahrer des roten Golf blitzschnell seine Ware ins Auto hievte, passierte es: Die Folie riß und ein Tier rutschte halb heraus... Es war tatsächlich ein abgeschlachteter Hund! Hunde, die sie an Lokale verkaufen und an Touristen verfüttern, schoß es mir durch den Kopf. Mein Essen blieb mir im Hals stecken. Was hatte ich da gerade auf meinem Teller?...“ Ach Gott, Frau Huth! Wie bewegend! Wie unglaublich!

Frau Huth und Herr Steinbeck haben für ihre Schicksals-Story je 300 Mark bekommen. Das ist so beim Live Journal. Da kann man angeblich auch selbst wählen, unter welcher Überschrift man gerne Hunde essen oder 18 Meter tief fallen möchte. Unter „Das ist mir passiert“ beispielsweise. Oder unter „Das darf doch nicht wahr sein“. Wahlweise auch unter „Schauplätze des Schicksals“, „Das offene Bekenntnis“ oder unter „Meine Operation“. Alle Leser-Stories (rund 20 davon sind in jeden Heft) müssen angeblich, so die Regeln beim Live Journal, „unbedingt echt sein. Von Lesern für Leser.“

Ähnlich ist das auch bei den anderen Heften aus dem großen Billig-Reich des Hamburger Bauer- Verlags, der mit seiner Tochter Pabel-Moewig (VPM) den Markt der „Erlebnispresse“ (Verlagsjargon) beherrscht: Mein Schicksal, Meine Story oder auch Mein Geheimnis – „das große deutsche Erlebnis-Magazin“. Allerdings muß man da außerdem auch noch weiblich sein, um sein Schicksal niederschreiben zu dürfen. In Mein Geheimnis heißt es nämlich, „moderne Frauen sprechen sich aus“. Rückschrittliche Männer, die von Hausdächern fallen, haben da nix drin verloren. Allenfalls in der Erzählung der modernen Ute B., 26: „Entsetzt! Mein Mann ein kaltblütiger Mörder? Unmöglich! Oder...?“

„Tragische Erlebnisse, leidenschaftliche Liebe, gemeine Intrigen, verzweifelte Geständnisse und Schicksalsgeschichten, die das Leben schreibt“ werden in Mein Geheimnis auf chlorfreiem, voll recycelbarem Papier gedruckt und sind dann die längste Zeit ein Geheimnis gewesen.

Endlich weiß man auch, woher die Autoren schwülstiger Seifenopern immer ihre hanebüchenen Geschichten nehmen: Eine einzige Ausgabe von Mein Geheimnis reicht locker für 80 Folgen „Verbotene Liebe“: Karin D., Ende 20, Moers: „Ich hatte es meiner Freundin auf dem Totenbett versprochen: Für ihre vier Kinder wollte ich Ersatzmutti sein...“ Oder hier: „Tragisch! Nach 25 Jahren Ehe – Barbara M., Anfang 50, Magdeburg: Alzheimer! Mein Mann macht mir das Leben zur Hölle!“ Schrecklich! Wann wird das endlich für die „Lindenstraße“ verfilmt? Die Geschichte von Karina F., 26, ein Ex-Callgirl („Mutig!“) gab's ja schon im „Marienhof“: „Bitte, verzeih mir doch endlich... meine Vergangenheit!“

Tatsächlich gibt es in Live und Mein Geheimnis so viel Dramatik, daß man den Videorekorder getrost unprogrammiert lassen kann, wenn man dieser Tage in Urlaub fährt: Die „Leser schreiben für Leser“-Gazette am Strand entschädigt für locker für die verpaßten Daily-Soaps zu Hause: Eine Tochter haut ihre Mitschüler, weil ihre Eltern „beim Sex zu laut“ sind! Huh! Eine Sekretärin wird von ihrem Chef zu einer „gemeinen Intrige erpreßt“. Delia H. aus Remscheid betrügt ihren Mann und wird dabei „zur willigen Sexmaschine“. Andrea L. aus Weingarten muß jetzt jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen und ihrem Mann das Frühstück machen, „weil ein Gericht das so entschieden hat“. Yvonne aus Berlin wird plötzlich „von einer anderen Frau verführt“ und fühlt sich „hilflos“. Petra aus Hamburg wird von ihrem „Märchenprinzen“ in die Tablettensucht getrieben, Rainer N. aus München wollte eine Bank überfallen und bekam vor dem Schalter eine Herzattacke, und Thorsten D. aus Mannheim hat eine Pille gegen das Altern erfunden, „aber die Tablettenmafia verbietet mir, sie auf den Markt zu bringen!“ Da schwinden einem die Sinne.

„Hier schreiben Menschen, was sie echt bewegt“, titelt das Live Journal. Ich habe jetzt auch eine Geschichte geschrieben und eingesandt: „Schrecklich! Auf dem Weg zu meiner geheimen Geliebten überfuhr ich meinen eigenen Bruder!“ Ist zwar kein Wort wahr, aber wer will das schon groß überprüfen? Falls die Story gedruckt wird, gebe ich Ihnen Bescheid, liebe Leser. Ich hoffe, Sie sind dann bewegt. Unglaublich! Frank M. Z., Mitte 20, Freiburg

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen